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: Beten, beten, beten!

In Bayern glaubt man, und das weiß jedes Kind seit der ersten Religionsstunde, daß man sich aus dem Fegefeuer herausbeten kann. In Bagdad, das freilich wissen wir erst jetzt, kann man sich auch herausbeten. Aus dem Gefängnis.

Aber – andere Länder, andere Sitten – nicht der läßliche Sünder, sondern der Todsünder darf sich in die Freiheit psalmodieren. So will es Saddam Hussein, und so stand es im Regierungsblatt Ad- Dostour („Die Erlaubnis“). Wer mindestens vier lange Suren des Korans fehlerlos hersagen kann, das bestimmt ein neues Gnadendekret des irakischen Präsidenten, kommt frei. Kein Blutgeld, keine Peitschenhiebe, kein Galgen. Einzige Zulassungsbedingung: Nur Totschläger dürfen an dem frommen Ablaßexamen teilnehmen. Betrüger, Wucherer, Diebe, Räuber, Spione, politische und ähnliche Ungeheuer scheitern am unerbittlich-sakralen Numerus clausus für Verbrecher.

6.464 Totschläger traten zwischen Euphrat und Tigris zur Prüfung an. Und in den Gefängnishöfen soll ein Stimmengewirr wie einst zu Babel geherrscht haben. 6.427 gut präparierte Kandidaten bestanden. 37 Analphabeten, Legastheniker, Dumme und Faule verhaspelten sich, blieben mitten im Vers stecken, wußten nicht mehr weiter und rasselten durchs Examen. In Kürze jedoch dürfen die Sitzenbleiber repetieren. Und täglich tragen sich neue Totschläger in die Prüfungslisten ein. Der Koranabsatz in der Volksrepublik Irak boomt.

Warum schlägt Saddams Herz so plötzlich für merkfähige Gewaltverbrecher? Ist er etwa fromm geworden? Oder will er sich für den Vorsitz der Mullahs bewerben? Nein. Pure Nostalgie ist der Grund. Auch Saddams Karriere begann einst im Knast. Er saß für einen Mord ein, den er zusammen mit einem Onkel begangen hatte. Und wie seine 6.427 Landsleute jetzt, so hat sich Saddam damals aus dem Knast gelernt. Aber nicht durch das Aufsagen frommer Verse, sondern durch das Auswendiglernen des sozialistischen Programms der Baath-Partei. Dafür ließen ihn die Genossen laufen. Walter Saller