Wie Schäfer Obrigheim rettete

Ein Landtagsuntersuchungsausschuß in Stuttgart fördert irritierende Details über die Wiederinbetriebnahme des AKW Obrigheim zutage  ■ Von Gerd Rosenkranz

Drei Wochen nach der Wiederinbetriebnahme des umstrittenen Altreaktors Obrigheim am Neckar gerät die Entscheidung des baden- württembergischen Umweltministers Harald B. Schäfer (SPD) ins Zwielicht. Der bekennende Atomkraftgegner hatte Ende Oktober erklärt, ein „sprödes Versagen“ des Reaktordruckbehälters des 27 Jahre alten Meilers sei „nach heutigem menschlichen Erkenntnisvermögen praktisch ausgeschlossen“. Einem Weiterbetrieb des Kraftwerks stehe mithin nichts im Wege.

Seither fördert ein Untersuchungsausschuß des Stuttgarter Landtags, der parallel zu der von Schäfer veranlaßten Kraftwerksüberprüfung arbeitet, einige irritierende Details des ministeriellen Entscheidungsprozesses zutage. So gründete Schäfer sein Verdikt auf Berechnungen US-amerikanischer Experten des hochangesehenen Oak Ridge National Laboratory (ORNL). Die hatten für Obrigheim eine „Sprödbruchsicherheit“ entsprechend den Regularien der US-Atombehörde NRC (Regulatory Guide 1.99“) errechnet. Das Öko-Institut hingegen konnte mit der gleichen Methode einen Sicherheitsnachweis noch nicht sehen. Schäfers juristischer Gutachter, der Freiburger Rechtsanwalt Siegfried de Witt, hatte daraufhin bei der Bekanntgabe der Wiederinbetriebnahmeentscheidung am 27. Oktober offen die Kompetenz der Gutachter des Öko-Instituts angezweifelt.

Bei der Befragung der deutschen Experten durch den Obrigheim-Ausschuß am Mittwoch stellte sich nun heraus, daß die US- Fachleute zu ihren beruhigenden Ergebnissen vor allem deshalb kamen, weil ihnen unzureichende Proben vorlagen. Daß diese Proben nicht repräsentativ waren, glaubt nicht nur das Öko-Institut, sondern auch die Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung (BAM) in Berlin und die Gesellschaft für Reaktorsicherheit (GRS) in Köln.

Die BAM stimmte der Wiederinbetriebnahme des Obrigheim- Meilers am Ende zwar zu, stützte sich dabei jedoch auf andere Untersuchungen aus dem Sommer. Der Projektleiter der BAM, Hermann Wüstenberg, beklagte vor dem Ausschuß die Hektik am Ende des Begutachtungsprozesses. „Kurz vor Toresschluß“, sagte Wüstenberg, habe „der Betreiber eine andere Dynamik ins Verfahren gebracht.“

Die Vertreter aller drei Gutachter – also des Öko-Instituts, der BAM und des TÜV Südwest – versicherten im Untersuchungsausschuß übereinstimmend, daß die Einschaltung der US-Experten ursprünglich in enger Abstimmung mit allen Beteiligten erfolgen sollte. Dies sei entgegen den Absprachen nicht geschehen, so daß letztlich der Betreiber des Kraftwerks Obrigheim allein die US- Experten auswählte und sie auch mit den Daten für ihre Berechnungen versorgte. Dies könnte erklären, warum die Amerikaner die Proben wie selbstverständlich als „repräsentativ“ bewerteten. Die unterschiedliche Basis der Berechnungen wiederum macht die unterschiedlichen Resultate von US-Experten und Öko-Institut plausibel.

Ein bezeichnendes Licht auf den Entscheidungsprozeß im Hause Schäfer wirft auch ein Briefwechsel zwischen Rechtsanwalt de Witt und der Atomabteilung des Umweltministeriums, aus dem der bündnisgrüne Vertreter im Obrigheim-Ausschuß, Fritz Kuhn, mehrfach genüßlich zitierte. Wenige Tage vor Bekanntgabe der Entscheidung bat de Witt seinen Auftraggeber, sein eigenes, seinerzeit bereits im Ministerium vorliegendes Rechtsgutachten „daraufhin zu überprüfen, ob ich das Öko-Institut zutreffend kritisiere“. Weiter ersuchte de Witt Schäfers als stramm atomfreundlich bekannte Atomabteilung um Darstellung der „methodischen Kritik am Vorgehen des Öko-Instituts auf ein bis zwei Seiten“. Das könne, drängte der Atomrechtsexperte weiter, „für die öffentliche Auseinandersetzung von erheblicher Bedeutung sein“. Der Gutachter suchte also bei seinem Auftraggeber um Formulierung seines Gutachtens nach.

Niemand wunderte sich, im Gegenteil. Schäfers Beamte reagierten noch am selben Tag: „In Anlage 1 ist eine schriftliche Stellungnahme sowie ein Formulierungsvorschlag für Seite 45 Ihres Gutachtens angeschlossen.“

Offensichtlich war de Witt, ein früher Rechtsvertreter der AKW- Gegner in Wyhl und Kalkar, von Schäfer erst eingeschaltet worden, als intern über die Wiederinbetriebnahme des Kraftwerks schon entschieden war. Er sollte dem ministeriellen Votum die nötige Glaubwürdigkeit verschaffen, nachdem absehbar geworden war, daß das Öko-Institut für diese Rolle nicht zur Verfügung stehen würde. Dazu mußten die Öko- Wissenschaftler öffentlich abgemeiert werden – eine Aufgabe, die der atomkritische Minister nicht selbst übernehmen wollte.

Schäfer war schon im Sommer zu der Überzeugung gelangt, daß die Obrigheim-Stillegung gegen den größeren Koalitionspartner und gegen die eigene Atomabteilung endgültig ein zu hartes Stück Arbeit werden würde. Eine gute Woche vor der Bekanntgabe seiner Entscheidung bat Schäfer den Anführer der Pro-Atom-Riege seines Ministeriums und leitenden Ministerialrat, Dietmar Keil, noch einmal um einen schriftlichen Sachstandsbericht über die Obrigheim-Begutachtung. Keil wurde nicht selbst aktiv, sondern leitete den Auftrag umgehend weiter: an den TÜV Südwest, der das AKW Obrigheim seit fast 30 Jahren positiv bewertet und die aktuelle Begutachtung von Anfang an als überflüssig einstufte.

Die TÜV-Gutachter lieferten prompt. Das Papier gelangte – mit einem zustimmenden Vermerk Keils – auf den Schreibtisch des Ministers. Der Chef reagierte pikiert: „Unsere Abteilung 5 [zuständig für Nukleares, d. Red.]“, notierte Schäfer mit grüner Tinte, „ist keine Dependance des TÜV und umgekehrt. Manchmal könnte der Eindruck entstehen.“ Eben.