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Pater Brown weicht Zorn Gottes

Mit einem unerwarteten Gegner bekam es Boris Becker im Finale der ATP-WM zu tun: dem am Ende chancenlosen Michael Chang  ■ Von Klaus-Peter Klingelschmitt

Frankfurt/Main (taz) – Michael Chang im Finale der ATP-Weltmeisterschaft gegen Boris Becker. Wer hätte das gedacht? Vor dem Halbfinalmatch Changs gegen Pete Sampras sprach alles nur vom Endspiel Becker-Sampras. Die Dramaturgie hätte gestimmt: Im Endspiel 1995 Revanche für die Niederlage Beckers gegen Sampras im Finale 94, und für Wimbledon gleich mit. Dazu die Bestätigung eines ungeschriebenen Gesetzes der letzten ATP-Weltmeisterschaften: Wer gegen Sampras in der „Round Robin“ gewinnt, unterliegt dem US-Amerikaner eben später. Becker hatte im vergangenen Jahr sein Vorrundenspiel gegen Sampras gewonnen – und das Endspiel verloren. Diesmal verlor der Deutsche in der Vorrunde – und sollte deshalb das Endspiel gewinnen. Das wäre das berühmte Tüpfelchen auf dem i gewesen für die rund 500 Journalistinnen und Journalisten aus aller Welt und für das Publikum in der Festhalle, den „Doppelpartner“ (Becker) von Boris Becker.

Doch schon nach nur zwei Sätzen im ersten Halbfinalspiel war der Traum vom „Traumfinale“ ausgeträumt. Ausgerechnet Michael Chang (USA), der seine letzten fünf Auftritte bei den Weltmeisterschaften in Frankfurt immer schon nach der Vorrunde beendet hatte, schlug „Big Pete“ mit 6:4, 6:4. Ähnliches war dem – im Größenvergleich mit den anderen Cracks – kleinen Mann (1,75m), der vorgestern Schuhe in den Schuhen trug, zwei paar Socken übergestreift hatte und einen längeren Schläger benutzte, um seinem Aufschlag durch die Hebelverlängerung mehr Power verleihen zu können, das letzte Mal vor drei Jahren in Key Biscayne gelungen. Gewonnen habe er diesmal gegen Sampras, weil er tatsächlich jedem Ball hintergehechelt sei, sagte der 23jährige, mit sich und der Welt zufrieden. Vielleicht habe Sampras in den vergangenen Nächten aber auch nur nicht genug geschlafen, um ihn, den ausgeschlafenen Chang, diesmal schlagen zu können. „Man weiß vorher nie genau, wie man gegen Pete spielen muß, um ihn zu besiegen. Meine Taktik, keinen Ball verloren zu geben, ist diesmal aufgegangen, weil ich ihn damit zu nicht mehr einkalkulierten Extraschlägen gezwungen habe.“

Michael Chang, heißt es in einem Reader der Veranstalter, könne als Heinz Rühmann der weißen Szene bezeichnet werden. Denn wie der Schauspieler mache Chang den vielen Kleinen, weniger Talentierten und scheinbar Unterlegenen so schön Mut. Seine Lebensgeschichte sei ebensowenig spektakulär wie sein Tennisspiel. Chang sei einfach Sportler – nicht mehr und nicht weniger. In einer Zeit, in der die Vermarktung mindestens genauso wichtig ist wie die Qualität der Grundlinienschläge, ist das vielleicht kein allzu vielversprechender Ansatz. Doch Chang kann gut mit diesem Image leben. Über zehn Millionen Dollar an Preisgeldern hat er sich seit seinem überraschenden Turniersieg als 17jähriger bei den French Open von 1989 erspielt. Und „ausgeflippt“ ist der US-Amerikaner chinesischer Abstammung seitdem nur ein einziges Mal: Bei einem Turnier in Düsseldorf tippte sich Chang nach einem Leichtsinnsfehler – nach übereinstimmenden Zeugenaussagen – zumindest einmal kurz an die Stirn. Sein Bruder Carl, der wie ein Buddha in der Loge saß, habe die Augenbrauen strafend zusammengezogen.

Schon als Baby, sagen seine Eltern, habe sich Michael nie echauffiert – selbst dann nicht, wenn er sein Fläschchen nicht rechtzeitig bekam. Wer angesichts dieses Gleichmuts vermutet, daß Chang praktizierender Buddhist sei, liegt falsch. Er selbst wird nicht müde, sich als überzeugten Christen darzustellen, und spielt mit Hingabe den Pater Brown des Tenniszirkus. Sein Privatleben ist aber für ihn tatsächlich streng privat. Nur daß er seltene Zierfische aus einem See in Afrika züchtet, ließ Chang die Welt einmal wissen. Seitdem hängt ihm wenigstens ein Prädikat dauerhaft an: Michael Chang – der „kleine Fischfreund“.

Der Fischfreund also, der zwei chinesische Dialekte fließend sprechen kann und sein Abitur in Hoboken, New Jersey, zwei Jahre früher bestand als seine Altersgenossen, trat gestern im Kampf um die Kristallkrone der Weltmeisterschaft gegen Boris Becker an, den englische Zeitungen vor Wimbledon mit keinem anderen als Klaus Kinski verglichen hatten. Pete Sampras dagegen, der auf die Frage, was er von Goethe halte, antwortete, daß er dessen Weltranglistenplatz nicht kenne, saß da schon im Flugzeug zurück in die Staaten – mit einem Mickey-Mouse-Sammelband auf den Knien.

Boris Becker dagegen hatte den Schweden Thomas Enqvist im Halbfinale in einem immer engen Dreisatzmatch mit Glück (drei Netzroller) niedergekämpft. Doch Becker, der übermorgen seinen 28. Geburtstag feiert, wird langsam langsamer. Die Chance für Chang, dachten viele. Nicht wenige Spieler, schreibt sein Biograph im Programmheft, hätten gegen Chang auf dem Court die Wiederholung des Märchens vom Hasen und vom Igel erlebt. Im Finale allerdings (siehe Bericht auf Seite 2) war Chang zu selten schon da, wo der Ball landete, und verlor mit 6:7 (3:7), 0:6, 6:7 (5:7).

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