Mord auf hoher See

In Frankreich steht die Besatzung des Frachtschiffes „MC Ruby“ vor Gericht. Sie soll acht blinde Passagiere ausgeraubt, ermordet und über Bord geworfen haben. Ein anderer überlebte  ■ Aus Rouen Dorothea Hahn

Kingsley Ofusus Schicksal schien besiegelt. Einer nach dem anderen waren seine Gefährten aus dem dunklen Laderaum im Vorderdeck abgeholt worden. Gegen zwei Uhr kam die Reihe an Kingsley und seinen Halbbruder Albert Cudjoe. Ein Mann mit einem blutigen Hemd und ein anderer mit einer Metallstange in der Hand trieben die beiden vor sich her. Kingsley bekam einen Schlag auf den Kopf. Als er wieder zu sich kam, hörte er den Schrei seines Halbbruders: „Sie bringen mich um“, gefolgt von einem dumpfen Aufprall am Schiffsrumpf.

Kingsley rannte los. Zwei Schüsse knallten. Matrosen folgten ihm. In jener Nacht zum 3. November 1992, auf hoher See vor der Küste Portugals, fand Kingsley ein Versteck zwischen den mit Kakaobohnen gefüllten Jutesäcken und den Containern an Bord der „MC Ruby“. Drei Tage lang rührte er sich nicht. Aß nicht. Trank nicht. Er hörte, wie die Seemänner ihn suchten. Sie spannten Seile dicht über dem Boden, sie strichen die Planken mit frischer Farbe. Doch Kingsley harrte aus. Erst als das Schiff im Hafen lag, verließ er sein Versteck. Er kletterte durch Schornsteine des 150 Meter langen Schiffes. Zerbrach die Gitter vor einem Belüftungsloch. Sprang an Land und lief durch die Hafenanlagen von Le Havre zur französischen Polizei.

Seit vergangenem Montag sitzt der einzige Überlebende des Massakers an den blinden Passagieren an Bord der „MC Ruby“ als Nebenkläger auf einer Gerichtsbank der nordfranzösischen Stadt Rouen. Neben ihm haben die Väter von zwei seiner ermordeten Freunde Platz genommen. Sie sind für den auf drei Wochen terminierten Prozeß aus Ghana angereist. Ihnen gegenüber – keine zehn Meter entfernt – sitzen fünf Seeleute aus der Ukraine und einer aus Abchasien in dem Glaskasten für die Angeklagten.

Die Anklage lautet auf Raub, Mord und Mordversuch. Das französische Schwurgericht muß über Gewalttaten befinden, die auf einem unter der Flagge der Bahamas fahrenden monegassischen Schiff vor der Küste von Portugal stattgefunden haben. Die Opfer stammten aus Ghana und Kamerun; die Täter aus der einstigen Sowjetunion. Weil Kingsley Ofusu in Le Havre die Flucht von Bord gelang, geriet der Fall an die französische Justiz. Ein paar Tage später wäre Hamburg zuständig gewesen, die nächste Stadt auf der Route der „MC Ruby“ und das ursprüngliche Ziel der blinden Passagiere.

Die Anklageschrift begründet die Zuständigkeit der französischen Behörden doppelt: Erstens sei die Verfolgung des versteckten Kingsley Ofusu mit Mordabsicht bis in die französischen Territorialgewässer weitergegangen. Zweitens habe das Land eine UNO- Konvention unterzeichnet, die Gewaltakte außerhalb der Territorialgewässer – Seepiraterie genannt – unter die Gerichtsbarkeit aller Unterzeichnerländer stellt.

Drei Jahre haben die Vorarbeiten für den Prozeß gedauert – und längst nicht alle gewünschten Informationen gebracht. Klar scheint, daß am 24. Oktober 1992 acht ghanaische Hafenarbeiter nach dem Beladen des Schiffs an Bord der „MC Ruby“ blieben. Daß sie dort auf einen weiteren blinden Passagier aus Kamerun trafen und daß sie sich gemeinsam versteckten. Am 30. Oktober entdeckte die Crew die neun jungen Männer, nahm ihnen ihr Geld ab und sperrte sie bis zu der Mordnacht im Vorderdeck ein.

Von den sechs Mitgliedern der 24köpfigen Crew der „MC Ruby“, die im November 1992 nach der Gegenüberstellung mit Kingsley Ofusu in Le Havre verhaftet wurden, haben anfänglich fünf die Morde gestanden. Der Kapitän will erst nachträglich über das Verbrechen informiert worden sein. Bald begannen die Seeleute, ihre Geständnisse zu widerrufen und sich gegenseitig zu beschuldigen. Der zweite Mann an Bord erklärte, im Auftrag des Kapitäns gemordet zu haben. Ein Matrose behauptete, die blinden Passagiere seien nach ihrer Entdeckung auf eigenen Wunsch ins Meer gesprungen, und die Crew habe ihnen Holz nachgeworfen, damit sie an Land schwimmen könnten. Doch es gab auch Übereinstimmung in den Aussagen: Fast alle Angeklagten sprachen irgendwann einmal von dem „großen Druck“, keine blinden Passagiere an Bord zu haben. Die Reedereien würden mit Sanktionen reagieren.

Unbekannt ist bis heute die Identität des ermordeten blinden Passagiers aus Kamerun. Der Überlebende Kingsley Ofusu weiß nur, daß der junge Mann Anduse hieß und nach Deutschland wollte, wo er zwei Brüder hatte. Mehr Verständigung war zwischen dem englischsprachigen Ghanaer und dem französischsprachigen Kameruner nicht möglich.

Offen geblieben sind auch viele Fragen über die Angeklagten. Die Behörden der Ukraine, wo die Crew der „MC Ruby“ angeheuert worden war, haben sämtliche Anfragen der französischen Justiz ignoriert. Die ukrainische „Schwarzmeergesellschaft“, die Arbeitgeberin der Schiffsbesatzung, hat sich nach dem Verbrechen nur noch um ihren Kapitän gekümmert. Für den heute 60jährigen Vladimir Ilnitskiy besorgte sie 40 Schreiben, die dessen menschliche und berufliche Qualitäten loben, sie finanzierte die Reise seiner Gattin zum Prozeß nach Rouen und schickte einen zweiten Kapitän der Gesellschaft als Zeugen vor das französische Gericht. Alle anderen angeklagten Besatzungsmitglieder ließ die „Schwarzmeergesellschaft“ fallen.

„Wir wissen, daß unsere Seeleute Bürger der Republik Ghana getötet haben. Und wir sind entsetzt darüber“, sagt Kapitän Alexandr Vinnitzky im Zeugenstand. Er steht unbeweglich vor dem französischen Gericht, das von ihm Einzelheiten über die Marineschule in Odessa erfahren will. „Wie fänden Sie die Entdeckung von neun blinden Passagieren an Bord?“ fragt der Vorsitzende Richter Jean Raynaud ihn. „Schwerwiegend“, antwortet der Zeuge, der gekommen ist, um seinen Kapitäns-Kollegen zu entlasten. „Warum hat der Kapitän die Morde nicht selbst in Le Havre angezeigt?“ – „Er folgte einem inzwischen veralteten sowjetischen Stereotyp, wonach man ausländische Behörden nie um Hilfe bei einem Verbrechen an Bord bittet.“ – „Welche Verhaltensregeln gibt es für das Entdecken von blinden Passagieren auf hoher See?“ – „Gar keine.“

Der Zeuge spricht russisch. Er wird simultan ins Englische und ins Französische übersetzt. Der Vorsitzende Richter spricht von dem Umgang mit blinden Passagieren. Im Russischen, so hat er gehört, werden sie „Hasen“ genannt. Niemand reagiert. In Le Havre kursiert das Gerücht, daß die Schiffe der früheren Sowjetunion nie blinde Passagiere an Bord hatten.

Immer mehr europäische Länder belegen Seefahrtsgesellschaften, die illegale Einwanderer an Bord haben, mit hohen Strafen. Zusätzlich müssen die Gesellschaften lange und teure Liegezeiten ihrer Schiffe im Hafen in Kauf nehmen und die Heimreisen der „Illegalen“ bezahlen. Alle Besatzungen wissen, daß blinde Passagiere viel Ärger bedeuten. Im Zuschauersaal des Gerichtes in Rouen sagt ein alter Mann, der 34 Jahre auf französischen Schiffen zur See gefahren ist, leise: „Alles hängt vom Kapitän ab. Wenn er ein guter Mensch ist, bekommen blinde Passagiere zu essen und zu trinken. Wenn nicht ...“

Der Rouener Rechtsanwalt Mehana Mouhou ist überzeugt, daß Morde auf hoher See keine Seltenheit sind. Im Auftrag der antirassistischen Organisation MRAP hat Mouhou versucht, sich in Rouen als Nebenkläger zu konstituieren. Doch das Gericht lehnte ab. Die französische „Menschenrechtsliga“ hingegen, die ebenfalls einen Rassismusverdacht gegen die Angeklagten hegt, wurde vom Gericht „provisorisch“ als Nebenklägerin zugelassen.

Prozesse wegen Verbrechen auf hoher See sind selten. Ein Vergleichsfall ist nur aus der Mitte der 80er Jahre bekannt, als zypriotische Seeleute vor Gericht standen, weil sie blinde Passagiere aus Kenia in ein haifischverseuchtes Meer geworfen hatten. Damals machte ein Besatzungsmitglied die Tat bekannt.

Die Tatsache, daß es dieses Mal einen Überlebenden gibt, hat die Geschichte der „MC Ruby“ zum Filmstoff gemacht. Ein britisches Team, unterstützt von US-amerikanischem Kapital, hat bereits vor zwei Wochen in Ghana damit begonnen, den Stoff zu verfilmen. Titel: „Deadly Voyage“. Kingsley Ofusu, der sich die Arbeiten angesehen hat, fand sie „realistisch“. Drehbuchautor und Regisseur Stuart Hubard hat einen Anwalt engagiert, der in Rouen den Prozeß beobachtet, um Diffamierungsklagen auszuschließen.

Bislang hat Rouen sich nur mit den Angeklagten befaßt. Langatmig rekonstruierte der Vorsitzende Richter in der vergangenen Woche ihre Lebenläufe. Von Babuschkas war vor dem Gericht die Rede, von Politkommissaren, der Jugend im Komsomol und vom Krieg in Afghanistan. Der Überlebende Kingsley Ofusu beobachtet die Seeleute genau. Keiner von ihnen blickt in die Richtung des heute 25jährigen Ghanaers zurück.

In dieser Woche wird Kingsley Ofusu vor den Richter treten. Der sanfte junge Mann mit dem glatten Gesicht, der in den vergangenen drei Jahren Französisch gelernt hat, wird noch einmal die Morde an seinem Halbbruder und an seinen Freunden beschreiben, über die er schon so oft gesprochen hat. Er wird über seine Frau Agnes und die beiden kleinen Kinder sprechen, über den Tomatenstand seiner Mutter auf dem Markt und darüber, wie der Entschluß zu der heimlichen Reise nach Europa in ihm reifte.

Am Jahrestag des Todes seiner acht Reisegefährten hat er am 3. November acht Blumensträuße in Le Havre ins Meer geworfen – wie jedes Jahr. Ob er das auch noch 1996 tun darf, ist fraglich. Sein Aufenthalt in Frankreich ist auf den Prozeß befristet. Das Ingenieursstudium in Europa, von dem er seit seiner Kindheit in der ghanaischen Hafenstadt Takoradi träumt, wird vielleicht nie Realität werden.