■ Mit Lafontaine hat Rot-Grün neue Machtperspektiven
: Auferstanden aus Ruinen...

So nah können Glanz und Elend nebeneinanderliegen, so schnell längst Totgesages seine Wiederauferstehung feiern. Seit Donnerstag letzter Woche ist die Reformperspektive für die Republik wieder offen. Der dramatische Wechsel an der Spitze der SPD hat, erst einmal jenseits aller inhaltlichen Fragen, ein unmittelbares gesellschaftliches Feedback bekommen, das sich in dem Satz zusammenfassen läßt: Die SPD ist wieder da.

Das andauernde Siechtum vor Augen, wagten die Delegierten in Mannheim die befreiende Tat, um die Lähmung abzuschütteln, die in den letzten Monaten alles zu erdrücken drohte. Die Propaganda der Tat zeigte sofortigen Erfolg: Aus der verhöhnten, im besten Falle bemitleideten Partei auf dem Weg zur 25-Prozent-Marke wurde über Nacht wieder ein Gegner oder aber Partner. In einer Mediengesellschaft wie der Bundesrepublik, in der sich vor allem Stimmungen in Stimmen umsetzen lassen, ist das schon die halbe Miete. Erste Umfragen signalisieren bereits wieder einen Aufwärtstrend, und man kann wohl davon ausgehen, daß die Partei sich schließlich zwischen 30 und 35 Prozent einpendeln wird. Den Abgrund noch vor Augen, sind 35 Prozent doch auch ein schönes Ergebnis, werden sich, in Abwandlung eines bekannten Brandt-Zitates, die gestreßten SPD-Mitglieder sagen und sich erschöpft, aber zufrieden zurücklehnen.

Dabei hat die Partei die eigentliche Arbeit erst vor sich. Die Krise der Sozialdemokratie bestand ja nicht nur darin, daß sie den falschen Vorsitzenden hatte. Jeder, der sehen will, kann sehen, daß die Führungskrise auch Symptom einer tiefgreifenden strukturellen Krise ist, die zu dem größtmöglichen anzunehmenden Unfall geführt hat: Die SPD weiß eigentlich nicht mehr, wofür sie da ist. Beschwörend hatte Lafontaine in seiner schon jetzt zur Legende gewordenen Parteitagsrede in den Saal gerufen, es gebe noch politische Projekte, „für die wir uns begeistern können“ – die wollen die potentiellen Wähler und potentiellen Partner der SPD nun sehen. Das Problem Scharpings, aber auch schon von Engholm und Vogel vor ihm, war ja nicht zuletzt, daß die Partei mittlerweile so weit auseinanderdriftete, daß die Begeisterung der einen auf erbitterten Widerstand der anderen stieß.

So scheitert der ökologische Umbau der Gesellschaft in der SPD bis jetzt noch an der unheiligen Allianz von Gewerkschaftern und Leuten, die von sich behaupten: „Ich bin ein Automann.“ Die Außenpolitik blieb, eingekeilt zwischen einfallslosen Realpolitikern und prinzipienfesten Pazifisten, auf der Strecke und die Diskussion um neue soziale Sicherungssysteme auf interne Parteizirkel beschränkt. Mit der Wahl Oskar Lafontaines hat sich an dieser Misere erst einmal nichts geändert. Trotzdem besteht die Chance, daß nun endlich wieder Schwung in die Debatte kommt. Scharping war in der Urabstimmung der Partei vor zwei Jahren zum Vorsitzenden gewählt worden, weil die Mehrheit der Mitglieder glaubte, er sei in der Lage, sich selbst so weit zurückzunehmen, daß er die Auseinandersetzungen innerhalb der Partei hätte gut moderieren und damit in den jeweiligen Streitfragen zu einem konsensualen Abschluß bringen können. Das hat Scharping nicht geschafft, und deshalb ist er abgewählt worden. Lafontaine ist genau das Gegengift.

Der Konsens ist out, statt dessen hofft die Partei, daß endlich wieder einer kommt, der ihnen sagt, wo es langgeht, und die sich gegenseitig bekämpfenden Kleingruppen notfalls zu ihrem Glück zwingt. Lafontaine wird sicher für Anstöße innerhalb der Partei sorgen. Aber die Truppe insgesamt wieder auf einen neuen Kurs zu bringen, das gebrochene Ruder des Tankers SPD im Alleingang wieder zu flicken wird auch Lafontaine nicht schaffen. Schließlich war Oskar auch in den letzten Jahren nicht ganz ohne Einfluß innerhalb der SPD. Deshalb geht der jämmerliche Zustand der Partei auch auf sein Konto.

Wenn Lafontaine jetzt aber die Gunst der Stunde nutzt, hat er eine Chance, die Scharping tatsächlich nicht mehr hatte. Lafontaine kann nicht im Alleingang die strukturellen Probleme einer sozialdemokratischen Volkspartei im ausgehenden 20. Jahrhundert lösen, aber er kann seiner Partei den Glauben an eine Machtperspektive zurückgeben. Als die Bundestagswahl vor einem Jahr ausgezählt war, hatte die Koalition eine hauchdünne Mehrheit, die nur durch ein paar Überhangmandate etwas komfortabler wurde. Scharping hat es jedoch kein einziges Mal geschafft, die Bundesregierung ernsthaft in Bedrängnis zu bringen. Die einzige Abstimmungsniederlage der Koalition – um die Einladung des iranischen Außenministers – war von Joschka Fischer eingefädelt worden, die SPD zog nur mit. Auch aus der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen, die bekanntlich in eine rot- grüne Koalition führte und dem Modell damit auch bundesweit Schub hätte verleihen können, zog Scharping keine Konsequenzen.

Einer Partei in der Opposition, der die Machtperspektive abhanden kommt, fehlt aber jegliches disziplinierende Moment. Wo es sowieso nicht mehr ums Ganze geht, können die Gruppen- und Einzelinteressen hemmungslos ausgelebt werden, fehlt der Zwang zur Entscheidung oder aber können mühsam gefundene Formelkompromisse gleich wieder in Frage gestellt werden. Wenn Lafontaine also eine Chance haben will, muß er seiner Partei wieder eine Machtperspektive vermitteln, und die kann zur Zeit nur in einer Option liegen: Rot-Grün unter besonderer Beachtung der PDS.

Wenn man einmal von der Ausnahmewahl im Dezember 1990, bei der Lafontaine als vermeintlicher Gegner der Einheit eingebrochen ist, absieht, haben sowohl Rau bei der letzten Wahl der alten Bundesrepublik als auch Scharping bei den ersten „normalen“ Wahlen in der neuen Republik sich geweigert, einen polarisierenden Wahlkampf zu führen, der dem herrschenden schwarz-gelben Block eine klare rot-grüne Alternative entgegengestellt hätte. Lafontaine wäre, egal ob als Kanzlerkandidat oder nur als Parteichef, in der Lage, genau das zu tun. Und wie die Machtstrategen in der Union, die wußten, daß sie ohne die Unterstützung der CDU- Blockflöten im Osten ziemlich alt aussehen könnten, weiß Lafontaine, daß eine Apartheidpolitik gegenüber der PDS dazu führen kann, daß Rot-Grün die entscheidenden Prozente fehlen. Das wird Bewegung in die ostdeutschen Landtage bringen und einen Denkschub für 1998 freisetzen.

Die allererste Voraussetzung ist jedoch tatsächlich, innerhalb der SPD wieder Begeisterung für politische Projekte zu wecken. Zu wissen, wofür man eigentlich kämpfen soll, ist zwar noch nicht alles, es nicht zu wissen, ist aber nichts. Jürgen Gottschlich