Aus einem monotonen, grauen Trinkerleben

■ In „Nachtdienst“ erzählt Melitta Breznik von Erinnerungen an den toten Vater

Das Buch könnte auch „Abschied vom Vater“ heißen oder „Sterben“. „Es war ein früher Schnee in der Nacht im Oktober, als Vater starb. Ich war nicht da, ich hatte Nachtdienst.“ Am Ende ist der Tod einfach nur banal und stumm, es folgt eine Wohnungsauflösung, und das war's dann. Es ist die alte (aber nur im Prinzip immer wieder gleiche) Geschichte, die Melitta Breznik erzählt: Nachdem das Kind das Elternhaus lange verlassen hat, kommt es auf Umwegen zurück und erinnert sich an das Leben, von dem es, mittlerweile erwachsen, sich entfernt zu haben glaubt. „Ich sehe ihn nur an, sehe den alten, kranken Körper, versuche mich daran zu erinnern, wie ich ihn früher wahrgenommen habe ...“ Der Vater stirbt, und da passiert etwas im Gedächtnis und mit den alten Erfahrungen.

Aus dem Mann, der die Familie tyrannisierte, der nachts polternd nach Hause kam, dessen Anwesenheit ein stummes Luftanhalten bedeutete, wird jetzt in der Erinnerung der Mann, der nicht wie die Väter anderer Kinder morgens vor dem Dienst mit der Familie frühstücken konnte, denn er mußte viel zu früh raus, in die Fabrik. Mit solchen unspektakulären und genauen Beschreibungen wird von Melitta Breznik der triste und monotone Grundton eines verunglückten Lebens gemalt. In der Erinnerung wachsen dabei Verstehen und Anteilnahme, wo vorher vor allem Schauer und Abwendung waren.

Dieser Mann hat mit seinem Gepolter und seiner Sauferei den Lebenssaft aus der Familie und den Sinn aus der Sprache gesogen. „Ich höre mir selbst beim Reden zu, verstumme, denn alles, was ich sage, ist eine Übertreibung, eine Untertreibung und nicht die Wahrheit ...“

In dieser Zwischenwelt lebt die Tochter, im Buch können wir lesen, wie sie ihre Sprache zurückfindet und wie sich auch die Autorin damit einhergehend ihren Ton erarbeitet. Die Gattungsbezeichnung, die Melitta Breznik dem Text gibt, ist deshalb nicht ganz richtig: Er befindet sich in der Mitte zwischen Erzählung und der Rekonstruktion der eigenen Biographie. Ein Motiv, aufgrund dessen so viele Manuskripte geschrieben werden, die so oft danebengehen.

Der Vater war ein Trinker, der Alkohol verfolgt die Tochter, immer wieder stößt sie auf seinen Geruch, sie erlebt als Ärztin, die sie heute ist, dauernd Alkoholiker, unerreichbar in sich versponnene Leben, unbeherrschte Fleischberge. Die Tochter wollte sich im kalten Blick der Ärztin üben und zurechtfinden, und jetzt, in der Müdigkeit der Nachtwachen, rutscht ihr selbst bei diesen Elendsfiguren immer wieder der warme Blick des Mitgefühls dazwischen.

Damit ist das zweite traditionelle Thema markiert, das Melitta Breznik aufnimmt, der zwischen Mitgefühl und Fleischbeschau schwankende Blick des Arztes auf den Patienten. Breznik verschränkt ihre beiden Stränge, das ist quasi die Kunstform des Buches. Auf eine nicht bis ins letzte verstehbare Weise überlagern sich da die Ebenen, Vater und Tochter, Patient und Ärztin, wie die Erfahrung eines zwischen Wachen und Schlafen, zwischen Jetzt und Einst unauflösbaren Moments. Das war's dann schon, mehr passiert nicht in diesem unaufdringlich selbstbewußten Text.

Es ist also wirlich kein spektakuläres Buch, das die in Zürich lebende Österreicherin Melitta Breznik mit ihrem Erstling geschrieben hat, es ist nicht einmal klar, ob es ein vielversprechendes Debüt ist, denn bei dieser Art Literatur könnte es sein, daß die Autorin gar nicht weiterschreiben will oder muß. Vielleicht ist es also einfach nur ein kleines, schönes Buch. Peter Michalzik

Melitta Breznik: „Nachtdienst“. Erzählung, Luchterhand Literaturverlag München 1995, 114 Seiten, 29,80 Mark