Die Stille als Störung

■ Die akustische Umweltverschmutzung nimmt groteske Ausmaße an: Kirchenglocken gelten als Krach, Autoradios übertönen den Motorenlärm D

er inflationär gebrauchte Begriff „Umweltverschmutzung“ löst alle möglichen Assoziationen aus: Müllhalden, verstrahltes Gelände, giftige Emissionen, eutrophierte Seen, ölverschmierte Strände. Selten aber kommt uns Lärm in den Sinn. Die akustische Dauerberieselung durch den Organismus Stadt wird dabei längst von Fachleuten als akustische Umweltbelastung eingestift. Der Sound der City „übt genügend Einfluß aus, um denjenigen bisweilen Entzugserscheinungen auszusetzen, der die Stadt für einige Tage oder Wochen zugunsten der Natur und ihrer eigenen Töne und Geräusche verläßt“ – so beschreibt es, stellvertretend für viele, Jérôme Sans anläßlich der Klanginstallation „Infrasound“ in Hamburg. Der Sound der City, das heißt: Verkehrslärm, Musikausstrahlung in Autos, in Geschäften und auf öffentlichen Plätzen, Industriebetriebe, Baustellen, Geräuschentwicklung durch große Menschenansammlungen. Wer welche Frequenzen und Amplituden als wohltuend oder störend empfindet, das allerdings ist eine offene Frage. Lärm ist zwar meßbar, er wird jedoch individuell ganz unterschiedlich interpretiert.

Zwei Beispiele; Nummer eins: Kirchenglocken. Seit einigen Jahren haben bevorzugt Stadtbewohner diem Glocken als akustisches Haßobjekt im Visier – und bekommen im Streit mit den Kirchengemeinden vor Gericht meistens Recht. Die Säkularisierung, heißt es dann, hat ein Stadium erreicht, in dem die Gesellschaft die Kirchturmuhr nicht mehr als himmlischer Zeitmesser wahrnimmt, sondern nur noch als Störfaktor.

Beispiel zwei: Kuhglocken. Von denen sich städtische Gäste eines Sporthotels im Allgäu belästigt fühlten. Die Gäste drohten, die Koffer zu packen. Das tranceartige Klingklang, das die Kühe unfreiwillig produzieren, wurde als störender empfunden als die Geräuschansammlung, die ununterbrochen aus dem Fernseher trieft. Es kam zum Gerichtstermin vor der Kuh. Die Glocken dürfen bleiben: Milieuschutz.

Prof. August Schick kommt aus dem Allgäu. Und beschäftigt sich als Psychoakustiker am Institut für Mensch-Umwelt-Beziehungen der Universität Oldenburg auch mit der Frage, wie Klänge klassifizierbar sind, wie sie wahrgenommen werden und wie sie wirken. „Als Junge habe ich die große Hosianna-Glocke auf 30 Kilometer Entfernung hören können“, sagt Schick. „Heute wird ihr Klang von den Frequenzen des Verkehrslärms überdeckt.“ Wie auch das Stadtgefüge von einem Frequenzbrei nivelliert wird, dem kaum mehr zu entfliehen ist. Was sich nicht zuletzt in den innerstädtischen Immobilienpreisen ausdrückt. Jedes Dezibel weniger muß teuer bezahlt werden. „Lärm ist ein soziales Phänomen“, sagt der Psychoakustiker, der sein Institut als Relaisstation zwischen den Disziplinen sieht. Schick versucht, mehr Mediziner für das Thema zu sensibilisieren. Sie sollen in ihre Diagnosen Lärm als Krankheitsauslöser für Herz-Kreislauf-Krankheiten stärker als biosher einbeziehen.

Denn daß Lärm krank machen kann, ist belegt. Die Lärmimmissions-Grenzwerte für Straßen in Wohn-, Gewerbe- oder innerstädtischen Gebieten sind längst festgelegt. Wer an einer Durchgangsstraße wohnt, hat dennoch schlechte Karten. „Es gibt zwar in Bremen ein Luftgütemeßnetz, jedoch keines zur Lärmmessung“, räumt Holger Bruns-Kösters vom Umweltressort ein. „Lärm spielt politisch keine Rolle“, sagt auch August Schick und vermutet, warum: „Die Entscheidungsträger wohnen alle ruhig.“

Vielleicht ist es mit der politischen Festlegung starrer Lärmschutzwerte ohnedies nicht getan. Eine NASA-Untersuchung ging der Frage nach, welche „Bedingungen für die Beschwerden über Lärm verantwortlich sind.“ Ergebnis: Lärm erscheint dann als besonders lästig, wenn man befürchtet, der Lärm könne einem schaden, wenn man der Ansicht ist, die zuständigen Behörden könnten den Lärm verhindern und die Lärmquelle habe keine wichtige Funktion. Fazit: Die physikalisch trockenen Dezibel-Analysen und gemessenen Frequenzspektren allein sind untauglich, um Lärmbelästigung einzuschätzen.

Wie Geräusche – und Musik als organisiertes Geräusch – letztlich auf uns wirken, ist schwer zu sagen. Wenigstens physikalisch beschreibbar wollten die Psychoakustiker sie machen: Grundmerkmale von Geräuschen sind, so Prof. Schick, ihre Rauhigkeit (Schweißen, Bohren in Beton), Schärfe (Zischen eines Dampfkessels beim Kochen), Tonhaltigkeit (Föhn, Windheulen) und Impulshaltigkeit (Gewehrschuß). Je nach Zusammensetzung entstehen Geräusche, die Entzücken oder Erschrecken hervorrufen. Keine Offensive ohne Kriegslärm: Noch im Vietnam-Krieg stieg die Angriffslust, wenn Wagners „Walküre“ aus den US-Kampfhubschraubern dröhnte.

Derweil fliehen alle, die es sich leisten können, vor dem Lärm der Stadt. Der Geräuschpegel in der Wohnumgebung ist einer der häufigsten Umzugsgründe. So entsteht das Phänomen, daß „verlärmte Gegenden schneller verslumen“. Wer es sich aber nicht leisten kann, dem Stadtlärm zu entfliehen, der muß sich wappnen. Eine wahre Hochrüstung ist bei geräuschdämpfenden Baustoffen zu beobachten. Doppelverglasung hilft schon längst nicht mehr. Heute muß es „Phonstop“-Glas, sein, dreifach isolierte Fensterscheiben, die Individualität, Privatheit und Intimität in den eigenen vier Wänden sicherstellen sollen. Doch zum Kampf gegen den Außenlärm kommt hier noch der Ärger über den Krach der Nachbarn. Gerade die Abstraktheit der Geräusche gibt bekanntlich zu wilden Spekulationen Anlaß: Ist das regelmäßige nächtliche Duschen in der Wohnung nebenan Provokation oder bloß Ausdruck eines anderen Lebensrhythmus'? Ist lebhaftes Kindergeschrei Symbol für eine wunderbar unbeschwerte Kindheit oder nicht enden wollendes, quälendes Gezeter unbeaufsichtigter Quälgeister?

Die Hochrüstung schalldämpfender Stoffe hat auch andere Innenräume erreicht. Während es auf den Straßen kracht, will man im Auto eine private Soundatmosphäre genießen. Das schafft ein Paradox: Einerseits wird Autolärm als Streß empfunden; andererseits sollen die Autos schon wie teure Autos brummen. Dafür gibt sich BMW große Mühe. 200 Leute kümmern sich beim „Sound Engineering“ in München darum, wie Autos klingen sollen. Inzwischen geht es nicht mehr darum, die Wagen leiser zu machen. Wichtig ist nämlich, daß BMW-Fahrer wissen, daß sie BMW-Fahrer („Freude am Fahren“) sind. Deshalb wird das Motorengeräusch, digital verstärkt, in den Fahrerraum gespielt. Motorradfahrer bezwecken Ähnliches, wenn sie die Schalldämpfer ihrer Maschine ausbauen, um dann mit authentisch entfesseltem Sound und 200 km/h an der verschreckten Autoschlange vorbeizuziehen.

Wenn es schon durchs Blech unüberhörbar in die Außenwelt wummert, darf man sich den Innenraum des Autos als rollendes Techno-Event vorstellen. „Anlagen mit vier mal 20 Watt verkaufen wir am besten“, sagt ein Fachmann im Elektro-Kaufhaus „Brinkmann“. Mit solchen Stärken ließ sich noch vor zehn Jahren ein größeres Zimmer beschallen – „das alte Autoradio hat ausgedient.“

Man kann sich den Sound natürlich auch direkt auf die Ohren legen. „Die Dezibelwellen der Walkman-Kopfhörer und die vervielfachten Lautstärken der heutigen Popkonzerte sind Teilphänomene desselben autistischen Rückzugs wie das ,Cocooning'“, sagt nochmals Jérôme Sans. „Es geht in beiden Fällen darum, die Welt durch Lautstärke auszuschalten, sich auf sich selbst zurückzuziehen.“

Alexander Musik