Vor allem aber wollen sie jetzt ihren Seelenfrieden retten

Wie haben die Nürnberger auf den historischen Prozeß in ihrer Stadt reagiert? Die ausländischen Prozeßbeobachter – unter ihnen namhafte Schriftsteller – haben nicht nur über die Banalität der Nazigrößen geschrieben, sondern auch einen Blick auf die deutschen Höhlenmenschen geworfen  ■ Von Niels Kadritzke

Auf einer Trümmerlichtung nahe dem Albrecht-Dürer-Denkmal kochen deutsche Frauen, in Mäntel und Pullover gehüllt, inmitten einer Meute ungekämmter Kinder, ihre Kartoffeln auf einem Herd, den sie aus rostigem Dachblech gefertigt haben. Wir wollen wissen, wo sie wohnen. Sie deuten auf die Tür im Beton eines Luftschutzbunkers. Ein Mann, den wir ansprechen, ist gerade aus Breslau angekommen. Ein Bauer, den die Polen enteignet haben. Als wir weitergehen, fliegen uns ein paar Steine hinterher, aus Richtung der größeren Kinder, die auf einem Trümmerhügel spielen. Ein paar Häuser weiter starrt uns von einer Mauer ein frisch gezeichnetes Hakenkreuz entgegen.“

John dos Passos über die Stadt Nürnberg am 19. November 1945. Tags darauf beginnt der Prozeß vor dem Internationalen Militärtribunal gegen die Hauptkriegsverbrecher des Naziregimes. Politische Führer wegen ihrer Verbrechen vor Gericht – eine Weltpremiere. Deswegen, nicht wegen des Blicks auf die deutschen Höhlenmenschen, hat die New Yorker Illustrierte Life den berühmten Schriftsteller nach Nürnberg geschickt. Im Saal des wilhelminischen Justizgebäudes wird er die Banalität der Nazigrößen beschreiben, die der „Verschwörung“ zum Angriffskrieg sowie zahlreicher Kriegsverbrechen und „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ angeklagt sind. Aber wie die meisten Berichterstatter kann sich auch dos Passos dem Bann des zerstörten Nürnberg nicht entziehen. Die „Stadt der Spielzeugmacher und der Meistersinger“ war für den ausländischen Besucher nicht nur die zerstörte mittelalterliche Idylle, sondern auch die bestrafte Stadt der Reichsparteitage.

Sieben Monate zuvor, am 20. April 1945, hatte die 3. US-Army pünktlich zum Geburtstag des Führers auf dem ehemaligen Adolf-Hitler-Platz ihre Siegesparade gefeiert. Jetzt, zu Beginn des Prozesses, hausten die Nürnberger inmitten ihrer Trümmer, für alle Welt stigmatisiert durch die „Nürnberger Gesetze“, geschlagen mit dem vulgärsten aller Nazi- Funktionäre. Julius Streicher, der Herausgeber des Stürmers, war zwar seit 1940 wegen privater Bereicherung am Besitz der verfolgten Juden als Gauleiter abgesetzt worden, aber sein Name war unlöschbar mit der Stadt verbunden.

Im ehemaligen Oberlandesgericht Nürnberg wurden erstmals viele Details über das System der Terrorherrschaft, über die systematische Kriegsvorbereitung und das Ausmaß der Naziverbrechen bekannt. Alle Welt sollte daraus lernen, vor allem die Deutschen. Ihnen wollte das Gericht klarmachen, so der Nürnberger Hauptankläger Robert H. Jackson, daß auch sie – als Instrument des NS- Kriegsunternehmens – ihren Teil der Verantwortung zu übernehmen hätten. Der Nürnberger Prozeß gegen die Führer war ein erster unentbehrlicher Schritt zur Aufklärung, zur Selbsteinsicht, zur re- education der Gefolgschaft.

Wie standen die Nürnberger zu diesem Ansinnen? Drei Wochen nach Beginn kam das US-Nachrichtenmagazin Newsweek zu dem Ergebnis: „Es gibt wohl auf der ganzen Welt keine Stadt vergleichbarer Größe, wo dieser Prozeß vom kleinen Mann auf der Straße weniger diskutiert wird als in Nürnberg. Und kein Land in der Welt, wo man weniger über ihn weiß als Deutschland.“ Fast alle ausländischen Nürnberg-Besucher sahen es ebenso.

Doch wie zuverlässig waren solche Urteile? War die Distanz der Berichterstatter zu den Nürnbergern etwa nicht ebenso groß wie die Ferne der Nürnberger zu dem Prozeßunternehmen, das sich wie eine Wagenburg in ihrer Stadt niedergelassen hatte? Im Innern des Justizpalastes war die deutsche Nation nur durch Putzfrauen vertreten, die dos Passos unter den Seidenstrümpfen und hochhackigen Schuhen der amerikanischen Sekretärinnen wegen ihrer „dicken, in die Stiefel gerammten Strickstrümpfe“ ins Auge fallen. Zudem gab es im Grand Hotel – wo das alliierte Personal zu Abend aß – noch die deutschen Kellner, für die man ab und zu ein paar Zigaretten liegenließ, weil Trinkgeld nach Fraternisierung ausgesehen hätte.

Jenseits der Justizenklave kamen die Berichterstatter mit den Einheimischen kaum in Berührung. Rebecca West, die sensibelste Beobachterin auch des eigenen Verhaltens, sieht sich und ihre Kollegen bei ihren schüchternen Sonntagsausflügen „in der Haltung höflicher Leute, die festellen, daß sie bei einer trauernden Familie eingedrungen sind“. Und auch wenn sie in ihrem Journalisten- Quartier unter sich waren, „wurde viel über das Gericht gesprochen, jedoch nie über Deutschland, von dem man ja wußte, daß es tot und begraben war“.

Im Herbst 1945 irrten in dem besiegten, besetzten Deutschland etwa zwölf Millionen Flüchtlinge und ausgebombte Städter umher. Dazu kamen mindestens fünf Millionen ausländische Zwangsarbeiter, die das Kriegsende zu vagabundierenden displaced persons gemacht hatte. Die schlechte Ernährungslage wurde durch den Regensommer 1945 vollends zur Katastrophe. Um die dürftige Ernte zu retten, mußten die Besatzungsmächte Millionen deutscher Kriegsgefangenener vorzeitig entlassen, weil auf den Feldern die befreiten Sklaven fehlten.

Die displaced persons verbreiteten unter der deutschen Bevölkerung Angst und Schrecken. Auch im Raum Nürnberg registrierte die Gendarmerie „marodierende Banden“, die sich nicht nur Kleidung, Lebensmittel und Wertsachen verschafften, sondern zuweilen auch Rache an den entzauberten Herrenmenschen übten. In dieser Lage hätte die Besatzungsarmee den Deutschen geradezu als Ordnungsfaktor erscheinen können. Die Wirklichkeit sah anders aus. Daß die meisten Deutschen sich nicht befreit fühlten und zudem die Alliierten für ihre elende Lage verantwortlich machten, hat die meisten ausländischen Beobachter damals zu dem Urteil gebracht, daß „in Deutschland der Nazismus weiterlebt“.

Eine Ausnahme war der dänische Journalist Stig Dagerman. Seine Überlegungen zur psychischen Verfassung relativieren viele Beobachtungen, die ausländische Augen in Nürnberg machten.

Die Apathie der „Kellerdeutschen“, ihre Bitterkeit gegenüber den Alliierten, die „Neigung zu Vergleichen zum Nachteil der Gegenwart“ sind für Dagerman fast selbstverständlich. Es grenze an Erpressung, „wenn man die politische Einstellung des Hungernden analysiert, ohne zugleich den Hunger zu analysieren“. Er meint damit die ausländischen Journalisten, die die Deutschen immer nur fragen, ob es ihnen unter Hitler bessergegangen sei. „Die Antwort, die der Besucher hierbei erhält, hat zur Folge, daß er sich mit einer Verbeugung des Zorns, des Ekels und der Verachtung hastig aus dem übelriechenden Raum zurückzieht.“

Solches Nachdenken über die besiegten Deutschen weist Dagerman als großartigen Journalisten und als großmütigen Menschen aus. Den Motiven, die viele ausländische Journalisten damals umtrieben, wird er dennoch nicht gerecht. Beobachter wie William L. Shirer oder Howard K. Smith, die als Berlin-Korrespondenten jahrelang die quälende Nazi-Atmosphäre miterlebt hatten und jetzt aus Nürnberg für US-Rundfunkanstalten berichteten, hatten ihren eigenen moralischen Imperativ: „Nie wieder!“ Shirer registriert in seinem Tagebuch, daß kein Deutscher von den Widerstandshelden gegen Hitler spricht: „Steigt nicht schon wieder der Geist von Hitler und Himmler aus den Ruinen?“ Smith sieht seine Wahrnehmung von 1945 im Rückblick recht kritisch: „Meine Antennen waren nur für eine Frage empfänglich: ob es zu einer Renaissance des Nazismus kommen könnte. In meinen Reportagen übertrieb ich jeden kleinen Hinweis auf eine solche mögliche Entwicklung.“

Was Smith von sich berichtet, gilt auch für viele andere Beobachter. So meldet der Newsweek-Reporter im Dezember 1945 die Verhaftung des Hausmeisters des Tribunalgebäudes. Man hatte entdeckt, was eigentlich keinen überraschen durfte: Der Mann war ein altes NSDAP-Mitglied. Im selben Bericht taucht ein frisch gekritzeltes Hakenkreuz auf und ein altes Rekrutierungsplakat für die SS, das man bis dahin übersehen hatte.

Doch solche Propaganda hatte keine Chance. Die meisten Deutschen, stellt Howard K. Smith rückblickend fest, waren so abgekämpft, daß kein Widerstand mehr von ihnen zu befürchten war. Das US-Magazin Time beschreibt die Lage im März 1946 realistisch: „Die Deutschen brauchten all ihre Energien dafür, in den Wäldern Brennholz zu schlagen, für Lebensmittelrationen anzustehen, sich aus den Ruinen einen Lebensbereich freizuschaufeln.“

Wenn die Energie schon nicht zum Widerstand gegen die Besatzungsmächte reichte, so erst recht nicht zu der von den Alliierten angestrebten Selbstbesinnung. William L. Shirer, der sich an einem kalten Dezembertag, der erste Schnee war schon gefallen, unter die Nürnberger begab, notierte die Meinung eines deutschen Ingenieurs über den Hauptangeklagten Göring: „Warum soll es falsch gewesen sein, die Luftwaffe aufzubauen? Wenn er seine Arbeit besser gemacht hätte, würde Nürnberg heute nicht in Trümmern liegen.“ Für den deutschen Techniker hat Göring vor allem fachlich versagt. Der Gedanke, daß Nürnberg noch Nürnberg wäre, wenn Göring und sein Führer Europa nicht mit Krieg überzogen hätten, er kommt ihm nicht. Und noch eine Antwort hört Shirer an diesem Tage: „Der Prozeß? Ihr hängt sie ja doch. Warum sollten wir uns darum kümmern? Wir frieren. Wir haben Hunger.“

„Ihr hängt sie ja doch.“ Ein Schlüsselsatz. Er zeugt von Apathie, Zynismus und tiefem Mißtrauen, die zu Prozeßbeginn nicht nur bei den Nürnbergern herrschten. So wie die Auslandsjournalisten mit den Augen von Antifaschisten in „den Deutschen“ noch eine Bedrohung erblickten, so betrachteten die meisten Deutschen den Prozeß gegen die Hauptkriegsverbrecher noch immer so, wie es ihnen die Nazis beigebracht hatten. „Ihr hängt sie ja doch“ hieß unausgesprochen: „Wie Hitler es getan hätte!“

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Natürlich hatten sie dabei den Reichstagsbrand-Prozeß im Kopf. Ein Nazi-Tribunal also – so dürfte es die Mehrheit der besiegten Deutschen zu Beginn der Nürnberger Verhandlungen gesehen haben. Damit sie nicht ins Grübeln kommen, springt ihnen reflexartig das Wort „Siegerjustiz“ über die Lippen. Wenn der Sieger ohnehin recht hat, braucht man die Frage nach dem Unrecht der Verlierer nicht mehr zu stellen. Wenn die deutschen Führer „den Krieg nicht verloren hätten, würden sie gar nicht vor Gericht stehen, sondern eure Führer“, meinte ein Nürnberger Anwalt gegenüber Newsweek. „Siegerjustiz“ bedeutet: Recht und Unrecht eines Krieges bemißt sich danach, wer den Krieg gewonnen, nicht danach, wer ihn begonnen hat. Auf diese Faustregel der Nazis – Goebbels hatte sie den Deutschen lange genug gepredigt – greifen sie instinktiv zurück, um zu vergessen, wie der verlorene Krieg begonnen hatte.

Wer sie daran erinnerte, behandelte sie im Grunde wie Untermenschen. So lautete die Botschaft eines handgemalten Plakats, das Howard K. Smith eines Morgens an einer Nürnberger Hauswand entdeckte. Es zeigte einen weißen, nackten Mann mit auf dem Rücken gefesselten Händen, bedrängt von einer dunklen, feindlichen, peitschenschwingenden Menge. Unter dem Plakat stand in riesigen Lettern: „DIE AUSGESTOSSENEN... und sonst absolut nichts. Keinerlei Erklärung. Niemand weiß, wer das Plakat aufgehängt hat. Niemand schickt sich an, es abzunehmen. Deutsche gehen vorbei, halten für einen Moment inne und sehen es an, dann gehen sie schweigend weiter. Ich kann mir keine wirksamere Propaganda vorstellen.“

Die Propaganda zielte gegen den Prozeß, der das deutsche Volk mit seiner historischen Verantwortung konfrontieren wollte. Diese Konfrontation war von dem Gericht keineswegs als Akt kollektiver „Ausstoßung“ gedacht. Ausstoßen wolle man die „Hauptkriegsverbrecher“; aber der Prozeß gegen sie war zugleich das Angebot an das deutsche Volk, in die „zivilisierte Welt“ zurückzukehren, wenn es seinen Teil der Verantwortung anerkannte.

Zu Beginn seiner großen Nürnberger Eröffnungsrede sagte der US-Chefankläger Jackson: „Wir möchten es klar aussprechen, daß wir nicht die Absicht haben, die ganze deutsche Nation anzuklagen. Hätte die gesamte deutsche Bevölkerung das Programm der NSDAP willig angenommen, hätte es ja nicht Konzentrationslager, Gestapo und SS benötigt.“ Auch der weitere Prozeßverlauf machte klar, daß das Gericht keine deutsche „Kollektivschuld“ konstruieren wollte. Und am Ende wurden drei Angeklagte sogar freigesprochen, weil ihnen keine persönliche Schuld im Sinne der Anklage nachzuweisen war.

Gerade weil die meisten Deutschen im Verlauf des Prozesses die „Objektivität“ und Fairneß der alliierten Richter anerkennen mußten, entstand für sie eine paradoxe psychologische Situation. Denn zugleich wurden sie ja in Nürnberg mit unwiderlegbaren Beweisen konfrontiert. Danach konnten keine Zweifel mehr bestehen, daß die Deutschen – begeistert oder zweifelnd, apathisch oder innerlich fluchend – an einem gigantischen kriminellen Unternehmen teilgenommen hatten. Je erdrückender die Beweislast gegen ihre Führer, desto dringlicher das eigene Bedürfnis, von deren Absichten nichts gewußt zu haben.

„Diese KZs, einfach schrecklich! Sie müssen wissen, daß wir einfachen Leute davon überhaupt nichts gewußt haben“, beteuert ein kleiner Ladenbesitzer dem Nürnberger Newsweek-Reporter. So ähnlich stellten sich damals ungezählte Deutsche ihren ausländischen Gesprächspartnern unaufgefordert als die Dummen dar. Für die Rettung ihres Seelenfriedens war nichts kostbarer als das eigene Unwissen – und die „Kollektivschuldthese“. Für Michael Balfour, den Chef des Nachrichtendienstes in der britischen Zone, steht fest, daß die „Legende“ von der Kollektivschuldbehauptung der Alliierten vorwiegend von Deutschen selbst verbreitet wurde, „wenn auch wahrscheinlich instinktiv und ohne vorsätzliche Absicht“. Mit der „Schuld“ ließ sich mühelos auch die eigene Mitverantwortung für den Angriffskrieg, für die „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ abstreiten.

Vor dieser Erkenntnis flüchteten sich viele alte Mitläufer in das Selbstmitleid der „Ausgestoßenen“. Niemand hat diesen Zusammenhang erbarmungsloser beschrieben als die Emigrantin Erika Mann, die den Nürnberger Prozeß für den Londoner Evening Standard verfolgte. In einem Brief an ihre Mutter schreibt sie im Februar 1946 über die Deutschen: „Weniger nett ist ihr triefendes Mitleid mit sich selbst, das der Leiden anderer schon deshalb niemals gedenkt, weil solche Leiden von jemandem verschuldet sein müssen, weil dieser jemand am Ende Deutschland heißt und weil Deutschland sich so uferlos nicht leid tun dürfte, wenn es schuld wäre, an anderer Leute ebenbürtigem Elend.“

Kurz vor der Urteilsverkündung wird Rebecca West auf einem ihrer Ausflüge mit Kollegen von einer alten Frau angesprochen, die wissen will, ob sie Fritz Sauckel, den obersten Verwalter der Sklavenarbeiter, schon verurteilt haben...

Warum gerade Sauckel, will Rebecca West wissen. Da bricht es aus der Frau hervor: „Dieser Schurke, der diese elenden Fremdarbeiter in unser Deutschland gebracht hat... Abschaum der Erde, Russen, Balkanesen, Balten, Slawen – Slawen, ich sage es euch. Als unsere Armeen besiegt wurden, brachen sie natürlich aus. Drei Tage lang feierten sie Karneval... Sie nahmen mein ganzes gutes Geschirr und meine Tischwäsche, und alles, was sie tragen konnten, diese Rohlinge, diese Bestien!“

Einer der Journalisten murmelt, die Zwangsarbeiter seien doch nicht freiwillig nach Deutschland gekommen. „Ja, ja, natürlich hätte man sie zu Hause lassen sollen, der Platz für ein Schwein ist im Schweinestall. Oh, der Galgen ist zu gut für Sauckel, ich könnte ihn mit meinen eigenen Händen umbringen.“ Und dann fängt sie an, über den Nazi-Pöbel zu schimpfen, den sie lieber heute als morgen am Galgen sähe. Nur in einem Punkt muß sie das Gericht rügen: „Ich habe nichts gegen die Juden – natürlich war es fürchterlich, was Hitler den Juden angetan hat, und keiner von uns hatte die leiseste Ahnung, was in den Lagern vor sich ging –, aber einen Juden als Hauptankläger auszuwählen, wirklich, also wirklich, war das ganz gentleman- like?“ Jemand sagt mit trauriger Stimme, der britische Hauptankläger Sir David Maxwell Fyfe sei nicht Jude, sondern Schotte. Die alte Frau prustet in ihr Taschentuch: „Aber wie kann man nur so naiv sein? Nehmt doch nur den Namen, liebe Leute! David! Wer außen einem Juden würde seinen Sohn schon David nennen?“

Eine Mehrheit der Deutschen hat die Nürnberger Urteile als fair und richtig empfunden. Weil der Gerechtigkeit nun Genüge getan wurde? Mag sein. Weil die Verurteilung der Sündenböcke es erleichterte, der Erforschung des eigenen Gewissens aus dem Weg zu gehen? Sicher trifft dies für die vielen kleinen Nazis und die Mitläufer zu. Vergleicht man die Schlußworte der Richter mit denen der Angeklagten, besteht kein Zweifel, wer den Besiegten eher aus dem Herzen sprach. Der Mahnung der Richter, die Mitverantwortung anzunehmen, stand die Absolution gegenüber, die ihnen Hermann Göring, der ranghöchste überlebende Naziführer, erteilte. „Ohne Kenntnis über die schweren Verbrechen, die heute bekanntgegeben wurden, hat das Volk treu, opferwillig und tapfer den ohne seinen Willen entbrannten Existenzkampf auf Leben und Tod durchgekämpft und durchgelitten. Das deutsche Volk ist frei von Schuld.“

Noch erleichterter konnten die Verführten dem Schlußwort zustimmen, mit dem Hans Fritzsche als einer von denen posierte, deren guter Glaube und Idealismus von Hitler mißbraucht worden sei: „Ich befinde mich in dieser Lage des Getäuschten zusammen mit vielen, vielen anderen Deutschen, von denen die Anklage sagt, sie hätten das, was geschah, erkennen können aus rauchenden Schornsteinen in Konzentrationslagern oder aus dem bloßen Anblick von Häftlingen.“ Und dann distanzierte sich Fritzsche von den „Urhebern der Greueltaten“, denen er unwissend gedient habe, und stellte erhobenen Hauptes fest: „Zwischen diesen Verbrechern und mir gibt es nur eine einzige Verbindung: Sie haben mich lediglich in anderer Weise mißbraucht als diejenigen, die ihnen körperlich zum Opfer fielen.“ Der freigesprochene Propagandist als Exorzist. So führte er den „Gutgläubigen und Mißbrauchten“ die Austreibung ihrer Gewissensqualen vor, noch ehe diese richtig aufkommen konnten. Die Unfähigkeit zum Sehen, Erkennen, Begreifen des Mordgeschehens begründet den moralischen Anspruch, mit den Ermordeten um einen gerechten Anteil am Mitleid zu konkurrieren.

Doch Fritzsches akrobatische Büßerhaltung ist als eine Pose erkennbar, in der die Davongekommenen erstarren mußten, um sich vor dem Weiterdenken zu schützen. Alfred Andersch, der in diesen Monaten mit der Bahn durch Deutschland reiste, berichtet von dem Gespräch mit einem vertriebenen Sudetendeutschen, der wie Fritzsche sagt: „Die haben uns richtig verführt. Ausgenutzt haben sie uns.“ Aber dann folgt der Satz: „Und wir sind mitgegangen.“ Das sei die Meinung des Volkes, die es von anderen nicht hören will, meint Alfred Andersch: „Sie wissen es alle. In den Augenblicken, in denen ganz nüchtern vom Schicksal erzählt wird, da wissen wir es alle. Aber man haßt die Prediger, die Geständnisse und Vorwürfe auf den Straßen leiern. Geständnisse sind große Tabus; sie wirken nur, wenn man sie nicht antastet.“ Als Hannah Arendt vier Jahre später durch Deutschland reiste, registrierte sie deprimiert, daß kein einziger alliierter Soldat nötig gewesen sei, um die wirklich Schuldigen vor dem Volkszorn zu schützen: „Diesen Zorn gibt es nämlich heute gar nicht, und offensichtlich war er auch nie vorhanden.“

In diese emotionale Leere verpufften die großen Erwartungen, die an die Nürnberger Lektionen geknüpft waren. Benedetto Croce, der italienische Philosoph mit einer Schwäche für den deutschen Idealismus, erhoffte sich von den Besiegten die Fähigkeit zur „Scham über das Böse, für das sie sich als Instrument hergegeben haben“. Diese Scham könne sich in eine Macht des Guten verwandeln „wie bei den großen Heiligen, die dereinst große Sünder waren“.

Das Bekehrungswunder ist nicht eingetreten. Die Gründe haben zwanzig Jahre später Alexander und Margarete Mitscherlich in ihrem klassischen Buch „Die Unfähigkeit zu trauern“ beschrieben. „Die Konfrontation mit der Einsicht, daß die gewaltigen Kriegsanstrengungen wie die ungeheuerlichen Verbrechen einer wahnhaften Inflation des Selbstgefühls, einem ins Groteske gesteigerten Narzißmus gedient hatten, hätte zur völligen Deflation des Selbstwertes führen, Melancholie auslösen müssen.“ Um Reue, Trauer, Scham abzuwehren, mußte man die historische Realität verleugnen. Statt in der Vergangenheit herumzuwühlen, ist man damit beschäftigt, sich aus den Ruinen herauszuarbeiten.

„Beobachtet man die Deutschen“, schrieb Hannah Arendt 1950, „wie sie geschäftig durch die Ruinen ihrer tausendjährigen Geschichte stolpern und für die zerstörten Wahrzeichen ein Achselzucken übrighaben oder wie sie es einem verübeln, wenn man sie an die Schreckenstaten erinnert, welche die ganze übrige Welt nicht loslassen, dann begreift man, daß die Geschäftigkeit zu ihrer Hauptwaffe bei der Abwehr der Wirklichkeit geworden ist.“

Rebecca West hat es schon in Nürnberg erlebt, in einem Gewächshaus. Hier werkelt ein Kriegsinvalider vor sich hin, dessen neues Leben darin besteht, Blumen zu züchten. Die völlige Hingabe an seine Arbeit läßt die fremde Beobachterin spüren: „Für ihn war es Befreiung.“ Die Arbeit im Gewächshaus, nicht die an der deutschen Vergangenheit vor dem Nürnberger Gericht. Der einbeinige Invalide fragt die Engländerin nicht nach dem Schicksal der Angeklagten. Er will nur wissen, wie viele Prozesse wohl noch in Nürnberg stattfinden werden, mit wieviel alliiertem Personal künftig zu rechnen sei. Und ob vielleicht einer der englischen Journalisten auf dem Rückweg in Holland Station machen und ihm holländischen Blumensamen besorgen könne.