Unsichtbarkeit des Elends

Ausstellungen zum Thema Armut haben Konjunktur: In Dortmund zeigt man nun „Bilder vom Elend in der Kunst des 20. Jahrhunderts“  ■ Von Stefan Koldehoff

Gemocht und gezeigt hat der offizielle Kunstbetrieb in Deutschland ihre Werke in der Regel erst, wenn sich zwischen den darin beschriebenen sozialen Verhältnissen und der Gegenwart ein ausreichend dickes Zeitpolster und mit ihm die Möglichkeit der Ästhetisierung statt der Auseinandersetzung gebildet hatte. Das berühmte Wilhelm-II.-Zitat, KünstlerInnen wie Kollwitz, Barlach und Zille produzierten nichts als „Rinnsteinkunst“, findet seine Entsprechungen auch während der Weimarer Republik, natürlich während des Nationalsozialismus und auch in der Bundesrepublik der Nachkriegszeit. Mit mehr als 100 Exponaten will die Ausstellung „ArmutsZeugnisse“ noch bis Jahresende im Dortmunder Museum am Ostwall über die Formen und Ursachen von Armut in Deutschland und über die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Thema informieren. Organisiert hat die Übersichtsschau das städtische Fritz-Hüser-Institut zur Erforschung der Arbeiterliteratur. An einem umfangreichen Begleitprogramm mit Vorträgen, Filmen und Veranstaltungen beteiligen sich in seltener Einigkeit auch die Kirchen und Gewerkschaften.

Ausstellungen zur Armut und ihrem kulturellen Kontext haben Konjunktur in deutschen Museen: „Möbel der Armut“ zeigte das Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe, Anthony Hernandez' Fotodokumentation „Landscapes for the Homeless“ ist noch bis 19. November im Sprengel Museum in Hannover zu sehen. Die ambitionierten Projekte machen wie die Dortmunder Ausstellung die Schwierigkeiten im Umgang mit dem Thema deutlich: Im Laufe des bald vergangenen Jahrhunderts ist die Armut langsam, aber stetig in die optische Unsichtbarkeit verschwunden, weil es kaum mehr gelingt, die von ihr betroffenen Menschen zu Gruppen zusammenzufassen oder eindeutig zu lokalisieren. Mit der Verelendung geht die mindestens ebenso lebensbedrohliche Vereinzelung einher. Armut hat sich zudem aus den Zentren in die Randgebiete der Städte verlagert.

Käthe Kollwitz und der als Fotograf noch immer unzureichend wahrgenommene Heinrich Zille, die beide den Beginn der chronologisch aufgebauten Dortmunder Ausstellung markieren, konnten sich sicher sein, daß sie in den Hinterhöfen der Berliner Arbeiterviertel ihre Motive fanden. Ihre oft unbeteiligten und deshalb heute meist als unpolitisch abqualifizierten Darstellungen der menschenverachtenden Arbeitsverhältnisse, von Obdachlosigkeit und Prostitution, der katastrophalen hygienischen Situation und der Kinderarbeit fanden nach dem Zweiten Weltkrieg ebenso schnell in die Sammlungen der Wirtschaftswunderprofiteure wie die Bilder von Künstlern der Neuen Sachlichkeit aus der Weimarer Republik: Die Holzschnitte von Conrad Felixmüller, die Kriegskrüppel von Otto Dix und die Militaristen von George Grosz, denen die braunen Exkremente aus der offenen Schädeldecke dampfen, hatten schnell ihre Anstößigkeit verloren. Die Nostalgie hatte dem Naturalismus seine Schärfe genommen. Die krasse Bildsprache beschleunigte die vermeintliche Bewältigung scheinbar längst vergangener Zeit.

Auch der Übergang vom Nationalsozialismus zur Bundesrepublik funktionierte im Hinblick auf die sozialbewußte Kunst reibungslos. Die Dortmunder Ausstellung weist nach, daß Kritik an den bestehenden sozialen Verhältnissen auch in den Wirtschaftswunderjahren ein Tabu blieb. Erstaunlich ist trotz der gesellschaftspolitischen Logik dieser Entwicklung, daß das Thema Armut drei Jahrzehnte lang auch aus dem künstlerischen Bewußtsein verschwand und zunächst nur zaghaft über das Medium Fotografie seine Renaissance erlebte.

Erst in den 80er Jahren wird die Armut auch in Deutschland wieder ein Thema. Die veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse verlangen allerdings nach einer neuen Bildsprache abseits der tradierten Formeln. Trak Wendisch sucht danach auf fast ungegenständlichen Leinwänden, Felix Droese in der Technik des Holzschnitts. Zu vermitteln, was Arbeitslosigkeit bedeutet, daß Armut entmenschlicht, gelingt ihnen trotzdem nicht. Obwohl gerade in der zeitgenössischen Kunst immer wieder versucht, entzieht sich das Thema der ästhetisierenden Abstraktion. Die so entstandene kunsthistorische Lücke füllt in Dortmund bezeichnenderweise kein deutsches Kunstwerk, sondern eine Skulptur aus den USA, Duane Hansons lebensechte „Homeless Person“, die mit leerem Blick ein Pappschild „Will work for food“ in den Händen hält. Nur die nackte Realität schafft hier Bewußtsein.

„ArmutsZeugnisse – Bilder vom Elend in der Kunst des 20. Jahrhunderts“. Museum am Ostwall, Dortmund, bis 31.12. Katalog, 160 S., zahlreiche Abb., Verlag Elefanten Press Berlin, 39,80 DM