Showdown in Mannheim

■ Weil Scharping nicht zum Westernheld taugte, darf Lafontaine die Partei jetzt 700 Meilen westwärts führen. Klaus Kreimeier über mediale Politikinszenierungen

taz: Als Rudolf Scharping auf dem Mannheimer SPD-Parteitag gestürzt wurde, war die Rede vom „Königsmord“. Ist der Anklang an ein klassisches Shakespeare- Drama zufällig oder wiederholt die Bildberichterstattung „instinktiv“ die Stoffe der großen Dramen?

Klaus Kreimeier: Die bürgerliche Demokratie lebt ja von der Vernichtung des Pathos; sie mußte von den charismatischen Figuren und bildmächtigen Texten des Feudalzeitalters definitiv Abschied nehmen. Aber sie hat auch keinen Ersatz geschaffen; unseren Bedarf an Tragik und an pompöser Repräsentation kann sie nicht decken. Das gilt auch für unsere heutige Medienzivilisation. Die Ästhetik der Videobilder ist für Staatskunst denkbar ungeeignet, und unserer Phantasie gewährt sie wenig Spielraum. Unverändert aber ist unser Wunsch, Solisten vor uns zu sehen, möglichst im barocken Maßstab. Sie machen das politische Geschäft durchschaubar und unterhaltsam...

Also eine Angleichung der Politik an Genre-Versatzstücke vom Drama bis zur Seifenoper...?

Ja, somit wollen wir auf die alten Texte des Feudalismus nicht verzichten – eine Leihgabe der Vergangenheit, die wir mitschleppen. Der „Königsmord“ von Mannheim – das hat weniger mit Bildberichterstattung zu tun als mit der ganz normalen Poesie der Leitartikler, die von den Fernsehkommentatoren nur übernommen wird. Übrigens auch von den Politikern selbst. Der einzige Unterschied: Ein CDU-Politiker wie Johannes Gerster zitiert die Bibel und fragt Lafontaine: Kain, wo ist dein Bruder Abel? Ohne die alten, bluttriefenden Bilder geht es eben nicht.

In seiner Scharping-Hermeneutik jonglierte der Spiegel ja lange mit einem ganzen Arsenal von Scharping-Attributen, wobei Jürgen Leinemann somit eine Art veröffentlichtes Phantombild entstehen ließ. Der „hölzerne Langweiler“ habe ein „bärtiges Bubengesicht“, schrieb Leinemann noch 1994, das er demonstrativ nicht mit einer Designerbrille schmücke. Der „steife Provinzheld“ sei ein „Mann für den zweiten Blick“. Er sei das „untheatralische Kontrastprogramm zur pompösen Mediengala“ Helmut Kohls.

Ob diese Bilder mit dem realen Scharping etwas zu tun haben oder nicht, ist ganz egal. Leinemann gehört zu den Journalisten, die mit Leuten wie Scharping von Zeit zu Zeit leibhaftig verkehren. Trotzdem hat er seinen Pappkameraden aus den Versatzstücken zusammengesetzt, die ihm das Fernsehen zugespielt hat. Das Problem ist: Leinemann kann mit Scharping noch so viele und gründliche Interviews machen – er wird immer in die Schablonen des klassischen Feuilletonismus hineinrutschen und sich dabei der Inszenierungen bedienen, die ihm aus dem Fernsehen geläufig sind. Der Grund ist einfach: Er muß ein Publikum bedienen, das Scharping nur aus dem Fernsehen kennt. Die philologische Kritik ist hier fehl am Platz. Wir alle haben unseren virtuellen Medien-Scharping zum Selbermachen im Kopf. Das ist das Problem aller Politiker im elektronischen Zeitalter, und vielen bricht es das Genick.

Haben die Medien Scharping gestürzt, oder sind sie nur Aasfresser?

Natürlich muß man danach fragen, welchen Anteil die Medien am Sturz Scharpings hatten. Aber es wäre zu diesem Medienspektakel nicht gekommen, wenn die Sozialdemokratie insgesamt nicht in einer tiefen Sinn- und Identitätskrise stecken würde. Diese Krise einer Idee verfestigte sich in den letzten Jahren zur Krise der Partei. Die Parteikrise wiederum führte nach dem Ende der Ära Willy Brandts zu einem dramatischen Verfall des menschlichen und politischen Potentials auf den Führungsebenen. Das ausbrechende Machtgerangel war selbstverständlich ein gefundenes Fressen für die Medien, vor allem fürs Fernsehen. Plötzlich konnte uns die Bildermaschine eine hochkomplexe und komplizierte Angelegenheit – den schleichenden Untergang der SPD – als Mischung aus „Mensch-ärgere-dich-nicht“ und „Mörderspiel“ erzählen. Die Hauptfiguren, ständig den Kameraobjektiven ausgesetzt, fügten sich in ihre Rollen. So kam es in Mannheim zu einem vorläufigen Höhepunkt.

Auf dem Parteitag reagierten die eigenen Genossen von der Basis so, als wären sie Glieder in der lückenlosen Kette der Bilderverarbeitung; etwa wenn sie sagten: Der Scharping – wenn ich den schon im Fernsehen sehe! Wie sollen wir mit dem gewinnen?

Im Western gibt es den Shooting-Star, und es gibt den gebrochenen Helden, der dreimal zögert, bevor er daneben schießt und sich dann noch entschuldigt, daß er überhaupt geschossen hat. Das war Scharping als SPD-Vorsitzender. Aber im Western muß ja auch der „Anständige“ unglaublich gut schießen können. Ebenso im politischen Weltbild, das uns das Fernsehen präsentiert. Auf den Bildschirmen wünschen wir uns im Grunde ein endloses, immer wieder neues und spannendes Showdown zwischen Regierung und Opposition. Das konnte Scharping einfach nicht liefern. Folglich konzentrierten sich die Berichterstatter auf die Schießerei im SPD-Vorstand. Und Scharping geriet abermals ganz unabhängig von seinen politischen Positionen mit seinem Image auf die Verliererstraße. Sein ganzes Naturell – die verlangsamte Motorik des ewigen Zögerns, der moralinsaure Subtext seiner verbalen Äußerungen: All das blockierte sozusagen eine spannende Berichterstattung. Gleichzeitig legte sich Scharping-Dunst wie Mehltau auf die Sozialdemokratie; die ganze Partei agierte unter diesem Alpdruck wie in Trance, wie gelähmt. Erstaunlich immerhin, daß die Delegierten die Kraft fanden, sich aus diesem Dämmerzustand zu befreien. Mit Lafontaine nähert sich der Gang der Dinge nun wieder stärker dem Western an. Keine Kurskorrektur, sondern eine Korrektur der Dramaturgie.

Wie ist der direkte Vergleich Kohl-Scharping in bezug zu ihre Inszenierungen dramaturgisch zu werten?

Der „direkte Vergleich“ – als Shooting im Wahlkampf auf offener Szene – ist ja leider ausgefallen, weil beide Kontrahenten gekniffen haben. Im übrigen ist Kohl darum ein Medienphänomen, weil er jede (zusätzliche) mediale Inszenierung überflüssig macht. Er inszeniert sich selbst, keineswegs nur dank seiner Masse. Scharping hatte tausend Gegener, folglich mußte sich jeder Reporter genaue Gedanken machen, aus welchem Blickwinkel, in welchem Licht und vor welchem Hintergrund er ihn fotografiert. Kohl dagegen räumt Journalisten, die irgend etwas falsch machen, einfach beiseite. Bei den wenigen staatstragenden Interviews, die er pro anno gestattet, bestimmt er selbst nicht nur, wer ihm die Fragen stellen darf, sondern auch, wo er sitzt und wo die Fragesteller sitzen dürfen. Viel Raum bleibt dann sowieso nicht mehr. Zeit auch nicht, weil Kohl allein den Rhythmus aus Monologen und Stichworten diktiert. Es ist ein Trugschluß, anzunehmen, „das Fernsehen“ inszeniere die Machthabenden. Sie inszenieren sich selbst; darin besteht die „Verführung“ der elektronischen Wirklichkeit. Sie verkleinern oder vergrößern sich selbst oft bis zur Lächerlichkeit – und nicht selten enthaupten sie sich auf offener Bühne.

Die offene Bühne des Mannheimer Parteitages wirkte wie ein Spiegelkabinett. Applaudierten die Genossen, so sahen sie aufgrund der Life-Berichterstattung (ZDF) ihr eigenes Verhalten immer schon mit einer diffusen Öffentlichkeit rückgekoppelt...

Klar. Tele-Präsenz heißt auch: Die Handelnden sehen sich selbst handeln. Es gab Bilder vom Parteitag mit Delegierten, die eine Tageszeitung mit Fotos vom Parteitag in der Hand hielten. Das ist noch die Dramaturgie der Print- Medien, der Rhythmus von gestern: Man liest in der Zeitung nach, was man am Vortag alles angerichtet hat. Aber in der Nähe stand ja bestimmt ein Fernsehmonitor, auf dem der Delegierte sich selbst als Zeitungsleser sehen konnte. Man kann also sagen: Dieser Mensch lebte gleichzeitig in drei Zeiten, da jede Direktübertragung schon in die Zukunft springt oder, genauer gesagt, die Gegenwart liquidiert. Ich fürchte jedoch, daß die Genossen weder an die Öffentlichkeit noch an die Zukunft gedacht, sondern einfach nur ihr Spiegelbild angegafft haben. Interview: Manfred Riepe

Klaus Kreimeier (57) ist freier Medienpublizist und Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschien im Hansa-Verlag seine medientheoretische Abhandlung „Lob des Fernsehens“