Was der Bauer nicht kennt ...

In den entlegeneren Regionen Äthiopiens ist der Staat kaum präsent – aber die alten Traditionen geraten trotzdem zunehmend unter Druck der „Moderne“  ■ Von Tanja Busse

Zum Wasserholen geht die Hamer-Frau tief in das ausgetrocknete Flußbett. Mit einer Kürbisschale gräbt sie in den Sand ein Loch, das sich dann langsam mit Wasser füllt – zuerst schlammig- braun, später klar. Sie sitzt mit ausgestreckten Beinen neben dem Wasserloch, denn sie ist schwanger. Ihre beiden Töchter helfen ihr beim Putzen der Kalebassen.

Eigentlich müßte die Frau ihr Wasser gar nicht aus dem Boden graben. Hundert Meter flußaufwärts hat eine norwegische Missionsstation eine Wasserpumpe gebaut. Aber manchmal zelten da Touristen, die immerzu die Einheimischen fotografieren wollen. Deshalb geht die Frau lieber zum Flußbett. Da stört niemand.

Das Hamer-Volk lebt in der Savanne am Fluß Omo, im Südwesten Äthiopiens, wo Äthiopien schon fast zu Ende ist und Kenia noch nicht begonnen hat. Die meisten der nur 35.000 Hamer haben weder einen Paß, noch verstehen sie Äthiopiens Nationalsprache Amharisch. Die Anwesenheit eines Staates zeigt sich hier nur in der Präsenz einer äthiopischen Flagge vor den Holzhütten der Polizei in Turmi und Dumaka, den einzigen Städten der Hamer.

Vor hundert Jahren dehnte der damalige äthiopische Kaiser sein Reich nach Südwesten aus und eroberte dabei auch das Land der Hamer. Aber die Hauptstadt Addis Abeba blieb immer weit entfernt. Seit dem Sturz der sozialistischen Militärdiktatur von Mengistu Haile Mariam vor vier Jahren und dem Ende der äthiopischen Bürgerkriege befindet sich das Land eigentlich im Wirtschaftsboom – aber am Omo merkt man davon überhaupt nichts. Kalaschnikow und Coca-Cola – darauf beschränken sich hier die Errungenschaften der Zivilisation.

In der südlichen Region des Omos leben neben den Hamer noch Dutzende anderer Ethnien, die oft nur aus wenigen tausend Menschen bestehen, alle mit einer eigenen Sprache, eigenen Mythen und eigenen Lebensformen. Auch ihre unterschiedlichen alten Schönheitsideale haben sie sich bewahrt: Eine Mursi-Frau ist schön, wenn die Holzplatte in ihrer Unterlippe besonders groß ist. Die Frauen der Karo spießen sich Nägel durch die Lippen, und die Hamer-Frauen sind stolz auf die Narben auf ihrem Rücken: Sie lassen sich auspeitschen, wenn ein Junge aus ihrer Familie zur Initiation über die Rinder springt. Gelingt es ihm, über vier bis sechs nebeneinanderstehende Kühe zu laufen, darf er heiraten.

Jedes Jahr geht wertvoller Boden verloren

Die Hamer, Karo und Mursi leben als Viehzüchter in der Savanne, die Konso sind Ackerbauern im Hügelland. Sie haben über Jahrhunderte hinweg kunstvolle Terrassen in die steilen Abhänge gebaut. Während der dreimonatigen Regenzeit prasseln die Schauer so heftig, daß das Wasser die Erde mit ins Tal reißt – das sollen die Terrassen verhindern. Doch die Bevölkerung ist in den letzten Jahren so schnell gewachsen, daß manche Bauern die alten Terrassen abgerissen haben, um kurzfristig Land zu gewinnen. Die abgeernteten Felder und die von Rindern und Ziegen kahlgefressenen Grasflächen werden dann nach einer Regenzeit ausgewaschen. Jedes Jahr geht dadurch wertvoller Boden verloren. Die Vereinten Nationen begannen 1992 ein 30-Millionen- Dollar-Programm zur Sicherung der äthiopischen Böden. UN- Agrarwissenschaftler bilden jetzt äthiopische Techniker aus, die durch die Dörfer ziehen und dort gemeinsam mit den Bauern überlegen, wie man die Böden befestigen kann. Das ist neu, denn zu den Zeiten der Mengistu-Diktatur war es üblich, daß die Behörden allein überlegten und ihre Entscheidungen dann den Bauern aufzwangen. Ein UN-Entwicklungshelfer berichtet, daß damals Bauern manchmal soeben aufgeforstete Jungwälder kurzerhand wieder abholzten, weil sie Brennholz zumindest kurzfristig dringender brauchten als Waldflächen.

In 900 äthiopischen Gemeinden sind jetzt von Bauern und Technikern Entwicklungspläne zur Bodensicherung aufgestellt worden. Sie sollen mittels food for work umgesetzt werden: Wer bei den Projekten mitarbeitet, bekommt Nahrungsmittel. Die traditionellen Terrassen der Konso könnten jetzt ein Vorbild sein. Denn die seit Generationen unveränderten Anbaumethoden gewährleisten die Selbstversorgung; das gilt auch für die Mursi und Hamer mit ihren Viehherden. Es ist primitiv, aber es funktioniert, wenn es auch nicht dazu beiträgt, die vier Millionen Einwohner der Hauptstadt Addis Abeba oder die Bewohner der Halbwüsten im Norden des Landes zu ernähren. Das Landwirtschaftsministerium setzt nun auf „Modernisierung“ und forscht, wie man Saatgut verbessern und gegen Schädlinge resistent machen kann.

Die Skepsis der Hamer gegenüber Entwicklungsprojekten von außen beruht auf Erfahrung. Nordkoreanische Entwicklungshelfer machten einmal den Versuch, am Omo auf 5.000 Hektar eine Baumwollplantage anzulegen. In der Nähe des Städtchens Omorate rodeten sie die entsprechende Fläche Dornenbüsche und schaufelten kilometerlange Wassergräben. 1991, nach dem Sturz Mengistus, gaben sie auf und zogen ab. Nun rosten fünfzig Planierraupen in der Savanne vor sich hin.

„Möglicherweise profitable Investitionsfelder in Äthiopien“, lautet die Schlagzeile der englischsprachigen Addis Tribune, die von Zeitungsjungen in der äthiopischen Hauptstadt verkauft wird. Landwirtschaft, Transport, Privatschulen und Tourismus werden aufgelistet: Äthiopien sucht ausländisches Kapital. Die wenigen, die bereits da sind, machen gute Geschäfte. Am westäthiopischen Zuway-See unterhält seit zehn Jahren der italienische Unternehmer Antonio Varenna eine Gemüsefarm. Er war zu Zeiten Mengistus vermutlich der einzige ausländische Privatinvestor im Land. Heute produziert er auf 1.500 Hektar grüne Bohnen und Spargel für den europäischen Markt. „In der Erntezeit geben wir zweitausend Menschen Arbeit, und wir zahlen gut“, sagt einer von Varennas Mitarbeitern, während er seine Besucher über den englischen Rasen zum Swimmingpool führt. „Schließlich brauchen wir Leute, die arbeiten, und keine, die hungern.“ Im neuen Äthiopien ist die Farm ein Vorzeigeunternehmen. Noch immer kommen 80 Prozent der äthiopischen Exporterlöse aus der Landwirtschaft.

Die Grenze nach Somalia existiert nicht mehr

Die von der Regierung unternommene Wirtschaftsliberalisierung bringt viele neue Freiheiten. Zum Beispiel existiert die einst gesperrte Grenze zwischen Äthiopien und dem in seine Bestandteile aufgelösten Nachbarstaat Somalia in der Praxis nicht mehr. Die somalischen Nomaden der Grenzregion können nun ohne Kontrollen aus der Ogaden-Wüste im Osten Äthiopiens in Somalias Hauptstadt Mogadischu ziehen und wieder zurück.

Kritiker der äthiopischen Regierung sehen darin auch Nachteile. Die Addis Tribune warnt neben ihren Investorenhinweisen vor der Gefahr einer „Balkanisierung“ Äthiopiens – eine Befürchtung, die viele in Addis Abeba teilen. Die neue Verfassung des Landes, im vergangenen Jahr per Referendum angenommen, basiert auf dem Prinzip der ethnischen Selbstbestimmung und gesteht jeder Region das Recht zu, sich von Äthiopien zu trennen. In der Staatsführung sind die drei größten Ethnien des Landes vertreten: Der Staatspräsident Äthiopiens ist Negaso Gidada, ein Oromo; der Tigray Meles Zenawi, von Sommer 1991 bis zu den Wahlen im Mai 1995 Übergangspräsident, ist jetzt Premierminister, und der Verteidigungsminister ist mit Tamirat Layne ein Amhare.

Meles Zenawi war als Chef der von Tigray-Guerillakämpfern geführten Rebellenfront EPRDF (Revolutionäre Demokratische Front des äthiopischen Volkes), die im Sommer 1991 die Mengistu- Diktatur stürzte, der starke Mann Äthiopiens – und er bleibt es auch heute. Denn nach der neuen Verfassung ist die Rolle des Präsidenten jetzt hauptsächlich repräsentativ, während nun der Premierminister starke exekutive Funktionen ausübt. So klagen viele Vertreter von Minderheiten, die Regierung bevorzuge die Tigray-Region im Norden Äthiopiens. Die Parlamentswahlen im vergangenen Mai wurden von der Opposition boykottiert; der neue Präsident Gidada ist zwar Oromo, aber er entstammt nicht der wichtigsten Oromo-Gruppierung „Oromo-Befreiungsfront“ (OLF), sondern der kleinen „Demokratischen Organisation des Oromo- Volkes“ (OPDO), die von der OLF als Satellit der EPRDF betrachtet wird. Dennoch scheint die Gefahr eines neuen Bürgerkrieges gebannt. Rebellengruppen, die sich in den ersten Jahren nach Mengistus Sturz Gefechte mit der EPRDF lieferten, verlieren inzwischen Anhänger.

Für die einen ist die zunehmende Ethnisierung der äthiopischen Gesellschaft eine Garantie ihrer Rechte – für die anderen ein Ärgernis. Wenn man den Weltrekordläufer Haile Gebrselassie nach seine Ethnie fragt, bekommt man zu hören, das sei eine sehr dumme Frage. Er sei Äthiopier und laufe für sich und für Äthiopien – nicht für seine Ethnie, die Amharen, oder seine Heimatregion, in der Oromo wohnen.

Die Hamer und Konso im äußersten Süden des Landes berühren solche Diskussionen ohnehin kaum. Ihr Hauptproblem sind die Touristen. Die fahren in zunehmender Zahl mit Geländewagen in den äthiopischen Südwesten, um die Holzplatten der Mursi und die Nägel in den Lippen der Karo zu fotografieren. Die Scham über ihr oft taktloses Eindringen gelten sie dann in Geld- und Bonbongeschenken ab. Das bringt die jahrtausendealte Selbstversorgungswirtschaft mehr durcheinander als jeder Machtwechsel im fernen Addis Abeba. Mit dem äthiopischen Staat kommen die Bauern besser aus: Als in der Ortschaft Chensha einige Soldaten auftauchen, sammelt sich sofort eine Kinderschar und läuft hinter den Bewaffneten her. Schließlich entdecken sie, daß ein Soldat ein Trasistorradio trägt – und ein kleiner Junge läuft auf ihn zu, ergreift wie selbstverständlich seine Hand, und gemeinsam marschieren sie alle zusammen Richtung Kaserne.