■ Bosnien-Herzegowina nach dem Abkommen von Dayton
: Das völkische Prinzip

Noch ist es ein weiter Weg zu einem Frieden auf dem Balkan. Noch stecken viele Teufel in vielen Details. Noch ist unklar, wie das Abkommen von Dayton gegen den Willen der politischen und militärischen Führung der bosnischen Serben durchgesetzt werden soll, deren Entmachtung es ja postuliert. Aber zweifellos markiert das von den Präsidenten Serbiens, Kroatiens und Bosnien-Herzegowinas paraphierte Dokument die wichtigste Wende seit dem Kriegsbeginn auf dem Balkan vor nunmehr fast viereinhalb Jahren. Über 250.000 Personen wurden seither getötet. Die militärischen Auseinandersetzungen haben viereinhalb Millionen Menschen in die Flucht getrieben, entwurzelt. Eine humanitäre Katastrophe, wie sie Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und den anschließenden Massenvertreibungen nicht mehr erlebt hat, wird angehalten.

Eingeleitet wurde die Wende mit Nato-Bomben. Die massiven Luftangriffe auf die Logistik und Infrastruktur der bosnischen Serben haben es der regulären bosnischen Armee und ihren bosnisch- kroatischen Alliierten erlaubt, weite Gebiete zurückzuerobern. Die militärisch schwierige Lage der bosnisch-serbischen Truppen erleichterte es der kroatischen Armee, sich die serbisch besetzte Krajina zurückzuholen. Damit war der großserbische Traum erst mal ausgeträumt. Der gewendete Kommunist Milošević, ein Realist, kein Träumer, für den der Nationalismus immer nur Mittel der Mobilisierung, nie eine Glaubenssache war, schwenkte ein. Die Erhaltung seiner Macht war ihm schon immer wichtiger als jedwede großserbische Vision.

Der General Tudjman hatte bis auf die Rückeroberung Ostslawoniens seine militärischen Ziele erreicht. An einem bewaffneten Konflikt mit ungewissem Ausgang mit seinem Widerpart und Partner in Belgrad hatte er kein Interesse, zumal ihn dies dem Westen, auf dessen wirtschaftliche Hilfe er angewiesen ist, entfremdet hätte. Und Izetbegović muß spätestens nach dem international tolerierten Massaker in Srebrenica klargeworden sein, daß der UNO, den USA, der Europäischen Union allen hehren Worten zum Trotz ein Ende des Kriegs wichtiger war als die Herstellung einer souveränen Republik Bosnien-Herzegowina.

So stehen die Zeichen nun auf Frieden. Doch der Preis, der für ihn bezahlt wird, ist eine politische Kapitulation: Bosnien-Herzegowina wird aufgeteilt in eine Serbische Republik und eine Bosniakisch-Kroatische Föderation. Das ist die Zerschlagung der unabhängigen Republik, auch wenn sie weiterhin zentrale Regierungsinstanzen haben wird, auch wenn ein Sezessionsverbot festgeschrieben wird, auch wenn es eine gemeinsame Währung geben wird. Und noch in einer weiteren, langfristig viel bedeutsameren Hinsicht ist es die faktische Anerkennung militärisch geschaffener Tatsachen: Ethnisch „gesäuberte“ Gebiete werden „sauber“ bleiben. Oder erwartet jemand ernsthaft, daß ein verjagter Muslim in sein Dorf in der (bosnisch-)serbischen Republik zurückkehrt, wo serbische Polizisten patrouillieren und vielleicht auch noch eine serbische Armee? Dies gilt – mutatis mutandis – auch für die serbischen Flüchtlinge. Es mögen zwar zunächst republikanische Formen durchgesetzt werden, aber das völkische Prinzip wird implizit anerkannt.

Dieses völkische Prinzip geht davon aus, daß Menschen verschiedener Nationalität nicht zusammenleben können. Es ist ein Ideologem, das verkennt, daß der serbisch-kroatische Konflikt diesem Jahrhundert entstammt, obwohl es seit über 1.200 Jahren im südslawischen Raum Serben und Kroaten gibt, das verkennt, daß Muslime und Serben auf dem Balkan über Jahrhunderte hinweg zusammen oder nebeneinander lebten, in der Regel friedlich, im Ausnahmefall im Krieg.

Obwohl die UNO, die EU, der Westen in zahlreichen Dokumenten, von der Londoner Konferenz vom Sommer 1992 angefangen bis zu den Verhandlungen in Dayton der vergangenen Tage, in Worten immer an einem multiethnischen, republikanischen Bosnien-Herzegowina festhielt, hat sie das völkische Prinzip nie ernsthaft bekämpft. Schon vor dem Ausbruch des Krieges in Bosnien-Herzegowina wurden in Lissabon Karten gezeichnet, nach denen die Vielvölkerrepublik in ethnisch definierte Kantone aufgeteilt werden sollte. Der Vance-Owen-Plan, der Friedensplan der Kontaktgruppe, die international geduldete Vertreibung der Serben aus der Krajina, die Aufgabe der UN-Schutzzone Žepa haben dieses völkische Prinzip bestärkt. Die völkische Logik hat sich immer vehementer durchgesetzt, das völkische Gift immer wirksamer jede republikanische Option verbaut.

Man mag einwenden, es gehe darum, den Menschen zu helfen, und nicht darum, eine Staatsidee durchzusetzen. Es ist die abgewandelte Version des „lieber rot als tot“ – oder umgekehrt, je nach politischem Standpunkt. Diese Logik verkennt gerade den inneren, sagen wir ruhig: dialektischen Zusammenhang zwischen Form und Inhalt. Das völkische Prinzip trägt im Keim den Krieg. Das republikanische Prinzip gibt der Zivilität eine Chance. Die Geschichte spricht da Bände.

Doch noch ist in Bosnien-Herzegowina nicht aller Tage Abend. Noch gibt es Hoffnung auf eine andere Entwicklung als die in Dayton vorgezeichnete. Noch nie in den letzten dreieinhalb Jahren war die Chance auf einen Sturz des faschistoiden Regimes des bosnischen Serbenführers Karadžić so groß wie heute. Die Truppen seines Armeekommandanten Mladić haben entscheidende Niederlagen einstecken müssen. Und vor allem sind weite Teile der Bevölkerung seines Reiches zum erstenmal wirklich mit dem Krieg konfrontiert. Weit über hunderttausend Flüchtlinge irren seit der Herbstoffensive der bosnischen Armee in den serbisch besetzten Gebieten umher. Ein Sturz von Karadžić und Mladić, beide international gesucht, ist in den Bereich des Möglichen gerückt, und damit auch die Entzauberung der Mythen, in denen die serbische Bevölkerung weitgehend befangen ist. Es wäre die Voraussetzung für ein Zusammenleben von Serben, Kroaten und Muslimen in einer neuen Republik. Wenn die Sanktionen gegen Serbien erst aufgehoben würden, wenn Milošević, der den Krieg entfesselt hat, tatsächlich die logistische Unterstützung der bosnisch-serbischen Truppen aufgäbe, vor allem die Ölzufuhr stoppte, wäre viel gewonnen. Würde dann noch die internationale Wirtschaftshilfe gezielt eingesetzt, um Pole zu entwickeln, in denen die drei Völker zusammenarbeiten – angefangen mit Sarajevo, wo noch 50.000 Serben leben –, könnte die Dynamik der völkischen Segregation vielleicht gebrochen wären. Doch die Realpolitik läuft mit Volldampf in die entgegengesetzte Richtung. Thomas Schmid