Kaninchen vor der Bombe

Die EU-Regierungen lassen sich von Paris ausschimpfen und verzichten auf weitere Kritik an den Atomversuchen. Frankreich wirft WEU-Mitgliedern Heuchelei vor  ■ Aus Brüssel Alois Berger

Nur wenige Stunden nachdem der französische Staatspräsident Jacques Chirac die Unterstützung der deutschen, britischen, spanischen und griechischen Regierung beim Streit um die Atomversuche gelobt hatte, ließ er im Südpazifik die vierte Bombe zünden. Die vier Regierungen hatten sich letzte Woche in der UN-Vollversammlung dem Protest gegen die Nuklearversuche nicht angeschlossen. Die zehn anderen EU-Staaten hatten eine UN-Resolution unterschrieben, in der Atomversuche als überflüssig kritisiert worden waren.

Die Resolution löste in der Europäischen Union ein Beben aus, das noch lange nicht abgeklungen ist. In einem beispiellosen politischen Amoklauf hatte Chirac am Wochenende die mangelnde Solidarität der EU-Partner gegeißelt und ihnen Heuchelei vorgeworfen. Zornig sagte er sogar lange geplante Treffen mit dem belgischen, dem finnischen und dem italienischen Regierungschef ab. Auch wenn die meisten EU-Länder versuchen, den Streit herunterzuspielen, herrscht seither Hochspannung in der Europäischen Union. Die schwedische Außenministerin Lena Hjelm kündigte vorgestern an, ihr Land werde „normale Beziehungen zu Frankreich erst wieder aufnehmen, wenn die Tests gestoppt werden“.

Der Vorwurf der Heuchelei zielte vor allem auf die fünf EU- Länder Belgien, Niederlande, Italien, Portugal und Luxemburg, die gleichzeitig Mitglied in der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft WEU sind. Frankreich möchte die bislang bedeutungslose WEU gerne zum militärischen Arm der EU ausbauen, um ein europäisches Gegengewicht zur US- dominierten Nato zu schaffen. Frankreich ist nur politisch, nicht aber militärisch in die Nato integriert und spielt in der Nordatlantik-Allianz deshalb nur eine Nebenrolle.

Auf dem WEU-Gipfel letzte Woche in Madrid setzte Paris durch, daß alle Mitglieder ein Papier unterschrieben, in dem die Bedeutung der französischen und britischen Atomwaffen für die künftige europäische Verteidigung betont wird.

Man könne nicht an einem Tag die grundsätzliche Bedeutung der Kernwaffen für Europa anerkennen, wetterte der französische Außenminister Hervé de Charette am Montag in Brüssel, und am nächsten die dafür nötigen Versuche verurteilen. Aus Kreisen der belgischen Regierung war daraufhin zu hören, man brauche die Force de frappe nicht und verlasse sich ohnehin lieber auf den amerikanischen Atomschirm. Der sei weit genug entwickelt und brauche keine Tests mehr.

Trotz der Enttäuschung über de Charette, von dem erwartet worden war, er würde den Ausbruch seines Chefs herunterspielen und die Wogen glätten, hielten sich die meisten Außenminister mit ihrer Kritik zurück. Sie lassen sich lieber von Frankreich ausschimpfen als die Harmonie in der Europäischen Gemeinschaft zu gefährden. Nach der erneuten Zündung einer Atombombe im Südpazifik reagierten nur noch die österreichische und die dänische Regierung mit harscher Kritik.