Wonneschauer statt Bußtag

■ Lustvolles Spiel mit großen Gefühlen: Der Domchor gab Dvoraks „Stabat Mater“

Am ersten Buß- und Bettag, der der Pflegeversicherung zum Opfer gefallen war, drängten die Massen bei weitem nicht so zahlreich zum Domkonzert, wie das üblich war, als man morgens noch ausschlafen konnte. Verschärfend kam das schwerblütige romantische Programm hinzu: Wolfgang Helbich bot diesmal Antonin Dvoraks „Stabat Mater“ zur Feiertagserbauung an. Eine treffliche Wahl zwar, allerdings scheint Dvorak nix zu sein für die auf ehrliche Erbauung erpichten protestantisch-asketischen Freunde der Bußtagskonzerte.

Dabei kann man sich dem geistlichen Oevre des böhmischen Bauern mit seiner überbordenden musikantischen Begabung nur mit Rührung und – läßt man als aufgeklärter Zeitgenosse des 20. Jahrhunderts ein bißchen Nachsicht walten – mit Staunen nähern. Dvorak läßt sich nicht kategorisieren, schwankt zwischen tschechischer nationaler Schule, zwischen der „neudeutschen“ Romantik und dem formenstrengen Akademiker Brahms.

Dvoraks „Stabat Mater“ entstand als Reaktion auf tragisches Kindersterben in seiner Familie. Das Werk markiert einen ersten Schritt zur Bändigung des musikalischen Wildwuchses, der bis dahin für den Komponisten charakteristisch war. In der tränen- und trostreichen Marienverehrung findet er zu sich selbst. Da hebt ein melodieseliges Singen an, daß es einem schon die Tränen in die Augen treibt. Technisch virtuos schöpft Dvorak dabei den ganzen lyrischen und dramatischen Reichtum der Romantik aus, um von seiner Alltagsreligiosität zu künden.

Diese Mischung aus Schlichtheit der Botschaft und artistischem Raffinement verstört zuweilen, zuweien macht es auch lachen – wenn sich die Grenze zum religiös-musikalischen Kitsch gefährlich nähert. Oft aber umgarnt diese Musik den Hörer, zwingt ihn zu unmittelbarem Erleben und überwältigt ihn. Schwer ist es z.B. zu ertragen, wenn der Tenor mit tiefem Ernst seine schlichte Weise von crucifix condolere vorbringt. Verwickelt er sich in musikalischen Dialog mit dem Chor, entfährt dem Hörer ein anerkennendes „Donnerschlag“; kehrt die Weise nach hochdramatischen Ausbrüchen wieder, ist man schon gefangen und verzückt.

Verzückt vor Lust oder gar Schlimmerem machte sich der Domkantor ans Werk. Nichts in dieser reichen Partitur sollte ungesagt, keine Seelenregung des Komponisten verborgen bleiben, keine Farbe verblassen, kein dynamischer Ausbruch verpuffen, keine Schattierung verloren gehen. Nicht immer glückte das. So war Petr Chrastina als Tenor (bei hohen Tönen offenbar etwas indisponiert) dem Gestaltungswillen des Kantors nicht vollständig gewachsen. Auch die mit zartesten Tönen und warmen, aber machtvollen Aufschwüngen aufwartende Bremer Kammer-Sinfonie geriet sporadisch in Konflikt zwischen den Anforderungen Dvoraks und Helbichs. Klaus Mertens meisterte seinen Part ausdrucksstark, aber gottseidank nicht theatralisch. Mechthild Georg gab mit großer Musikalität und klug dosiertem Vibrato der Altpartie klare Konturen.

Uneingeschränkte Bewunderung aber wird dem Chor geschuldet. Artikulations- und intonationsicher, rhythmisch exakt und in vielerlei Farben leuchtend: Da wird Zuhören zum Genuß.

Helbichs oft mit Augenzwinkern vorgetragenes Auskosten der Partitur mag dem ohnehin opulenten Feiertagsbraten etwas viel Sahne beigemengt haben: genüßliches Verzögern und Beschleunigen, Fließenlassen musikalischer Phrasen und sie kunstvoll Stockenlassen. Dennoch zerbrechen ihm über der Ausgestaltung des Details die großformatigen Spannungsbögen nicht. Wenn da etwa die eigenartig chromatisch zerfressene, gleichwohl triumphale Doppelfuge auf Amen von dem a-capella-Einwurf des Chores – Paradieseswonnen verheißend – beendet wird, schwindet jeder Zweifel. Und man erlebt einen beglückenden Moment musikalischer Größe und Wahrheit. Mario Nitsche