Hungern lernen mit John-Joan Hekla Rosa

Seit Mai teilt Reinhard seine Wohnung mit einer Kreuzspinne. Er weiß jetzt alles über Mitteldarmblindsäcke, Webstoff, Guanin und das kannibalische Liebesleben von Araneus diadematus. Nun wird es Zeit, die WG aufzulösen  ■ Von Wolfgang Müller

Ende Mai war sie einfach da. Sie baumelte an einem kaum wahrnehmbaren Faden an der Leiste einer Wohnzimmerscheibe: Araneus diadematus, auch Gemeine Kreuzspinne genannt.

Wie das 14 Millimeter große Tier aus der Familie der Radnetzspinnen in seine 42 Quadratmeter große Hinterhauswohnung gekommen ist, weiß Reinhard nicht. Er vermutet aber, daß sie vom Oranienplatz über das Dach des Vorderhauses in ein zum Lüften geöffnetes Fenster geweht wurde.

Mittlerweile sind sechs Monate vergangen und Reinhard schwärmt noch immer von der Schönheit des Spinnennetzes. Seine Mitbewohnerin hat es in die untere rechte Scheibe des vierteiligen Fensters gebaut. „Es ist regelmäßig wie ein Rad.“

Reinhards Kreuzspinne hat sogar einen Namen: John-Joan Hekla Rosa. „Anfangs war mir nicht klar, ob es ein männliches oder ein weibliches Tier war.“ Das Geschlecht der etwa fünfzig in Deutschland vorkommenden Arten läßt sich nur durch eine Genitaluntersuchung sicher bestimmen. Allerdings haben alle Kreuzspinnen einklappbare Geschlechtsorgane.

„Zuerst hieß sie nur John Hekla Rosa. Weil sie aber eher gelbbraun als rosa ist, habe ich dann ein Joan vorangestellt. Das klingt ähnlich wie das französische ,jaune‘, also gelb. Als ich dann erfuhr, daß weibliche Kreuzspinnen doppelt so groß sind wie die männlichen, also etwa 15 Millimeter, wußte ich, daß es ein Weibchen ist.“ Den Namen Hekla trägt sie nach einem der berüchtigtsten Vulkane der Welt. Der nördlich des Gletschers Vatnajoküll in Island gelegene Vulkan brach erst vor wenigen Jahren, 1991, wieder aus. Vom Mittelalter bis ins 17. Jahrhundert galt Hekla auf dem Festland als ein Tor zur Hölle, aus dem das Jammern und Klagen der gepeinigten Seelen drang.

Die Kreuzspinne dagegen wurde wegen ihres Kreuzes auf dem Rücken im Mittelalter als heilig angesehen. Damals wußte die Geistlichkeit noch nicht, daß das Kreuz entsteht, weil die mit grellweißem Guanin gefüllten Mitteldarmblindsäcke durch die Körperwand hindurchschimmern.

Reinhard hat den Hekla zum erstenmal bei einem Islandbesuch im Sommer gesehen. „Daß Kreuzspinnen von Griechenland bis Island verbreitet sind, war mir da noch nicht bekannt. In Island werden sie ,krosskónguló‘ genannt.“

Einmal schlug der Wind die Vorhänge in Reinhards Wohnung so heftig gegen die Scheibe, daß das Netz zerriß. Die Spinne kletterte an die Leiste, verkroch sich in ihrem gesponnenen Unterstand und wurde von Stunde zu Stunde blasser. „Ich dachte schon, sie stirbt.“ Reinhard faßte sich ein Herz und suchte einen Biologen, einen Insektenspezialisten an der Humboldt-Universität, auf. „Zum Tierarzt hätte ich wohl schlecht gehen können. Der hätte mich doch für total plemplem gehalten. Jedenfalls beruhigte mich der Wissenschaftler. Das Tier produziere momentan in seinen Drüsen neuen Webstoff. Das koste halt viel Energie, und so werde die Produktion der Farbpigmente vorübergehend vernachlässigt.“

Tatsächlich war tags darauf das Netz neu gewoben, und John-Joan Hekla Rosa hockte wie eh und je mit dem Kopf nach unten in der Netzmitte. Für das Weben eines Netzes von 18 Zentimeter Durchmesser benötigt eine Kreuzspinne 18 bis 20 Meter Faden und vierzig Minuten Zeit. Da die Leimtröpfchen an den Klebespiralen spätestens in zwei Tagen trocken sind, muß sie dann alles erneuern, nur der Rahmen und einige Speichen bleiben stehen.

„Zuerst habe ich mich gefragt, was sie mit dem alten Netz macht, aber als ich sie dann eines Morgens beim Auffressen der Klebespirale überraschte, war mir alles klar.“ Sonst mag sie am liebsten Stubenfliegen, drei bis vier große täglich können es schon sein. Seit einiger Zeit sind diese rar in Reinhards Wohnung geworden. Auf dem Fensterbrett liegen noch ein paar vertrocknete schwarze Krümelchen – unverdauliche Reste alter Mahlzeiten.

Damit die Spinne nicht verhungert, fing Reinhard mit Hilfe eines Glases einen kleinen Weberknecht und warf ihn in ihr Netz. „Blitzschnell sprang sie auf das Opfer und drehte es wie eine Spindel um seine Längsachse. Erst als es völlig eingesponnen war, biß sie tödlich zu. Das Ganze trug sie wie eine Einkaufstüte in ihren Unterstand. Dort saugte sie ihr Opfer aus.“

„Meinst du, daß es nötig war, den Weberknecht da reinzuwerfen?“ Reinhard zuckt mit den Schultern: „Später habe ich gelesen, daß Spinnen wahre Hungerkünstler sind und ganz gut fasten können. Seitdem füttere ich sie nicht mehr.“

„Erkennt dich John-Joan Hekla Rosa eigentlich?“ „Ich denke, schon. Sie hat ja immerhin acht Augen. Wenn fremde Besucher zu nahe an ihr Netz gehen, klettert sie weg. Bei mir macht sie das jedenfalls nicht.“ Ob sie nicht einsam sei, allein in ihrem Netz, ohne große Aussicht auf einen Partner? Reinhard glaubt das nicht: „Die Kopulation von Kreuzspinnen dauert höchstens zwanzig Sekunden. Und anschließend wird das Männchen vom Weibchen gefressen. Sehr scheint es jedenfalls nicht an ihm zu hängen.“

Wie lange Reinhard seine neue Freundin bei sich haben wird, kann er noch nicht sagen. „Erst mal muß sie jetzt überwintern. Hier ist es zu warm. Ich setze sie zum Winterschlaf wahrscheinlich im Bethanienpark aus.“ Im kommenden Jahr wird sich John-Joan Hekla Rosa insgesamt achtmal häuten. Dann ist sie erwachsen. Im Herbst legt sie 50 bis 60 Eier unter einer Baumborke und stirbt danach. Die Jungen, die im Mai schlüpfen, werden ihre Mutter nie kennenlernen.