Büchermuffel zu Leseratten

■ Erhellendes zum Thema „Kinder und Lesen“ aus der Schmökerecke der Oldenburger KIBUM

Tim ist einerseits reingefallen, andererseits aber ganz zufrieden: „Techno-Zoo“ hatte er auf dem Buchumschlag gelesen, und da hatte er natürlich gedacht, das ist ein Buch über Techno, seine bevorzugte Musikrichtung. In Wirklichkeit geht es um Tiere. Die werden beschrieben als Hitec-Maschinen, bestehend aus Pumpen, Motoren, Computern und Kraftwerken, kurzum: „Die erstaunliche Leistung der Tiere, technisch erklärt“. Jetzt lümmelt sich Tim („11-aber-ich-werde-bald-12“) auf einem Matrazenlager in einer Ecke der KIBUM, der Oldenburger Kinderbuchmesse und blättert, liest quer. „Geil,“ resumiert er. Er notiert Titel, Autor und Preis auf einem Schmierzettel. Wie seine Lehrerin gesagt hat. Später kommt der Titel in Schönschrift auf den Weihnachtsmann-Wunschzettel – und seine Eltern haben eine Geschenksorge weniger.

Das ist nämlich der tiefere Sinn der Oldenbuger Kinderbuchmesse (vergangene Woche zu Ende gegangen): daß die Geschenksorgen der Eltern reduziert werden. Schulklassenweise überschwemmen Kinder die KIBUM, wählen Lieblingsbücher, lümmeln sich auf einem Matrazenlager und füllen Wunschzettel aus. Wenn man sich daneben legt, kann man viel Erhellendes hören zum Thema „Kinder und Lesen“.

Tim zum Beispiel: hat „total viele“ Bücher. Etwa vierzig. „Die meisten stehen auf dem Dachboden.“ Früher, meint er sinnend, da habe er viel gelesen, sowas wie „TKKG“, wo immer Jugendliche irgendwelche Fälle lösen. Heute sei dafür keine Zeit mehr. Zu viele Hausaufgaben, abends Radio hören, und das Hobby frißt ihn auf: Modelleisenbahn. Tim liest praktisch nichts mehr. Nur noch Hefte über Modelleisenbahnen.

Melanie („noch 10“) hat sich ein Buch über Wale ausgesucht sowie einen neuen Fall von Kommissar Kugelblitz („Der Fall Kobra“). Gerade liest sie Maria Seidemanns „Ein Bruder auf Probe“ an. Melanie hat dem Klappentext entnommen, daß Mutter heiraten will, aber Manuela nicht einverstanden ist. Ein Plot, der sie interessiert, auch wenn sie sich keineswegs einen Bruder wünscht. Falls sie das Buch nicht zu Weihnachten bekommt, kauft sie es sich. Daheim besitzt sie etwa einen Regalmeter Bücher, darunter alte von Mutti wie „Brummi und ihr Pony“. Natürlich hat sie ein Pferdeposter an der Wand. Sie gehört zu den sog. „Leseratten“, einer Minderheit von Kindern, die abends mehr lesen als fernsehen (nach der offiziellen Schlafzeit mit Taschenlampe unter der Bettdecke).

Sabrina („bald 11“) hat es sich mit einem „Buch-mit-Bip-Stift“ in der Schmökerecke bequem gemacht. Ein Bip-Stift hilft, Fragen zu beantworten, die in Bip-Stift-Büchern gestellt werden, zum Beispiel: „Wie alt ist Opa?“. Drückt man den Bip-Stift auf 60 Jahre, leuchtet ein rotes Licht und es macht puuup. Bei 62 Jahre blinkt es grün und macht dideldideldidel. Zweitens hat sich Sabrina (auch ein Pferdeposter an der Wand) ein Walbuch ausgesucht wegen „Free Willy“, was ein herzzerreißender Walfilm ist. Ist Sabrina eine Leseratte? „Ich lese eigentlich nur!“ Wenn sie nicht liest, gehört sie einer Mädchenbande an, die „Scheiße baut“, was zum Beispiel heißt, hinter älteren Frauen herschleichen und „klingelingeling“ machen, daß die denken, ein Fahrrad kommt. Danach sich kaputtlachen. Sabrina und ihre Freundinnen orientieren sich an einem literarischen Vorbild, einer Mädchenbande namens „Die wilden Hühner“.

Mitnichten kann man auf der KIBUM nur Schulkinder beobachten. Im Bilderbuchzimmer, das merkwürdigerweise nicht mit einer Schmökerecke ausgestattet ist, trifft man auf Svenja (5), die Pia (4) aus einem Buch über Hunde und Spinnen vorliest. Svenja liest ausdauernd und flüssig vor und erheblich spannender, als es der tatsächliche Text im Buch hergibt. Pias Mutter ist zur Unterstützunng der Kindergärtnerin mitgekommen. Sie bemängelt an ihrer Tochter, daß die sich geradezu regressiv nur lauter Babybücher greift, was natürlich keinerlei Wert hinsichtlich der Geschenksorgen hat. Pias große Schwester liest ebenfalls Bücher, die nicht nach dem Geschmack ihrer Mutter sind. Ausnahme: ihre alten Hanni-und-Nanni-Bücher. Die sind nicht totzukriegen.

Im Spezialzimmer „Jugendliteratur“ haben sich einige Jugendliche auf Matrazen zum Schlafen zurückgezogen. Andreas (13) schläft nicht. Er hat rote Ohren wegen „Ich will doch leben“ von Marliese Arold. Auf dem Umschlag blickt ein Mädchengesicht träumerisch in die Ferne. In dem Buch geht es um so entscheidende Dinge, daß Andreas darüber gar nicht reden möchte: um Nadine, die erste Liebe und AIDS. Was AIDS ist, weiß Andreas nicht genau, darum interessiert ihn das Buch ja. Zu Hause hat er 20 Bücher, „maximal“. Welche? Da muß er nachdenken. Richtig: ein Survival-Buch. Abends wird ferngesehen.

In Neles Schule werden Ausländer geärgert, „von den Jungs“. Nele (13) ist Klassensprecherin und findet es gut, sich zu engagieren. Konsequenterweise hat sie Jan de Zangers „Dann eben mit Gewalt“ herausgegriffen, eine Buch über Ausländerfeindlichkeit an der Schule. Und ein AIDS-Buch. Zum Lesen hat sie aber wohl kaum Zeit. Mal ein Ponybuch. Zu Hause auf dem ehemaligen Bauernhof haben sie 12 Katzen, Schafe, Hühner, Pfauen und ein Pony. Ihre Freundin Judith (in zwei Monaten 13) hat wegen exzessiven Kunstturnens keine Zeit zum Lesen, aber dies hier würde sie interessieren: „Mondnacht“ von Elke Hermannsdörfer. Eine 16-jährige wird ungewollt schwanger, steht im Klappentext. Judith will wissen: „Wird sie das Kind haben? Wie wird sie es großziehen?“ Einmal hat sie ein Buch über eine Jugendclique gelesen, das war toll. Sie selbst ist Mitglied einer Mädchenclique, die zwei Ziele verfolgt: „Herumalbern und Jungs verarschen.“ Verarschen heißt auch: verkloppen – wenn so Sprüche kommen wie Frauen-stehen-am-Herd. Judith wirft einen bezeichnenden Blick zu Matthias hinüber: „Der da hinten, das ist der Dööfste!“

Matthias-der-Dööfste (14-einhalb) brüllt gern „Sei ruhig du bist blond!“ Seine Wahl fiel auf ein Buch, das er auch nicht gern herzeigt: „Satans rote Augen“ von Nortrud Boge-Erli. Ihm stach auf dem Titel ein Symbol ins Auge, das Pentagramm, das kennt er aus Filmen über Satanismus. Gibt es Satanismus in Oldenburg? Klar, hat er von gehört, so auf Friedhöfen ... Matthias wird ganz hibbelig, will sich das Buch auf jeden Fall kaufen, 18 Mark, vom Taschengeld. Lesen tut er eigentlich nicht mehr, seit er aus dem Comic-Alter raus ist. Hat ja TV auf dem Zimmer. Die meiste Zeit ist er draußen, mit Kumpels. Spielt Fußball. Auch im Verein: Blauweiß Bümmerstede, B-Jugend.

Burkhard Straßmann