Von der Sorgfalt des Anklägers

■ Arzt freigesprochen / Selbst Nebenkläger von Unschuld überzeugt

Nach knapp zweistündiger Verhandlung ist der Staatsanwalt mit seinem Latein am Ende. Gestern morgen war er vor dem Amtsgericht angetreten, um einen Arzt zur Rechenschaft zu ziehen – am Ende des Prozesses mußte er sich selbst unangenehme Fragen gefallen lassen. Durch eine „Fehldiagnose“ habe der Mediziner „entgegen den Regeln der ärztlichen Kunst“ einen Patienten „körperlich mißhandelt“, wirft der Staatsanwalt dem Arzt vor. Der Patient war nach einem bewaffneten Überfall im März 1992 mit einer Schußwunde im Gesäß ins Sankt-Jürgen Krankenhaus eingeliefert worden. Daß er dort „alles andere als optimal“ behandelt worden ist, sieht selbst der Verteidiger des Arztes ein. Schließlich war nur die Schußwunde des Patienten versorgt worden – das Projektil blieb im Oberschenkel stecken.

Der 42jährige Mediziner, der seinerzeit als Assistenzarzt im Sankt-Jürgen Krankenhaus gearbeitet hat, bestreitet allerdings, dafür verantwortlich zu sein. Die Zeugenaussage einer Krankenschwester ist ihm zum Verhängnis geworden. Dr. B. sei der behandelnde Arzt gewesen – alle Einträge in der Krankenakte stammten von ihm, hatte die Schwester bei der Staatsanwaltschaft ausgesagt. Der Blick in die Krankenakte belehrt die Prozeßbeteiligten eines Besseren.

„Ich habe den Patienten bei der Aufnahme nicht gesehen. Ich hatte keinen Dienst“, sagt der Arzt. Gesehen hat er den Patienten erst einen Tag nach dessen Einlieferung. Der Chirug kam gerade aus dem Operationssaal, als ihn zwei Kripo-Beamten auf dem Flur ansprachen. Sie suchten nach dem verschwundenen Projektil – auch im Körper des Patienten. Der Arzt kannte den Verletzten nur aus den Berichten seiner Kollegen in der Frühbesprechung. Dort hieß es, dem Mann ginge es gut. Die Röntgenbilder ließen darauf schließen, daß sich das Projektil nicht im Körper sei. Trotzdem eilte der Mediziner ins Zimmer des Patienten, ließ sich von der Schweigepflicht entbinden und untersuchte die Wunde. „Es ging dem Patienten gut“, erinnert sich der Arzt. Der Oberschenkel sei „unauffällig gewesen“. Der Assistenzarzt ging also zurück zu den Kripo-Beamten und schickte sie wieder auf die Suche nach dem Projektil. „Die Kripo wußte damals nicht, ob mit scharfer Munition geschossen worden war“, verteidigt sich der Angeklagte. „Hätten sie mir gesagt, daß ganz sicher mit scharfer Munition geschossen worden ist und daß das Projektil im Körper stecken muß, wäre es anders gelaufen.“

Als der Patient am nächsten Morgen über starke Schmerzen klagte, wurde der Arzt allerdings hellhörig. Er tastete den inzwischen blau angelaufenen Oberschenkel ab und wurde fündig. „Das Projektil war deutlich tastbar. Ich habe sofort neue Röntgenaufnahmen veranlaßt“, beteuert der Angeklagte vor Gericht. Außerdem habe er den Narkosearzt informiert, um für die anstehende Operation keine Zeit zu verlieren. Danach sprach er mit dem Oberarzt. Doch der wollte mit der Operation einen Tag warten – die Nebenhöhlen des Patienten sollten erst geröngt werden.

Selbst auf der Anklagebank stellt sich der Arzt noch hinter seinen ehemaligen Vorgesetzen. „Um bei einer Operation Komplikationen auszuschließen, ist es sinnvoll vorher gründlich zu untersuchen“, sagt er. Dem Richter entgeht der leicht zweifelnde Unterton nicht. „Hätten Sie denn lieber gleich operiert?“ will er wissen. „Das war meine Privatmeinung. Wenn der Oberarzt warten will, kann ich nichts machen“, antwortet der Angeklagte.

Der Patient wollte damals allerdings nicht länger warten. Er ließ sich sofort in eine andere Klinik verlegen und erstattete Anzeige. Warum jetzt aber ausgerechnet der ehemalige Assistenzarzt auf der Anklagebank sitzt, versteht im Gerichtssaal niemand – nicht einmal der Anwalt des Patienten. „Das klingt alles sehr plausibel“, räumt der Anwalt ein. „Ich frage mich nur, warum das nicht von der Staatsanwaltschaft vorher sorgfältig ermittelt worden ist.“ Der Staatsanwalt schaut betreten drein. „Es ist nicht auszuschließen, daß sich diesem Verfahren andere anschließen“, sagt er und bleibt die Antwort schuldig. Aber dagegen, daß das Verfahren gegen den Arzt eingestellt wird, hat er nichts. kes