Tempeltanz fürs Seelenheil

Die indische Tempelstadt Hampi ist nach Goa das Mekka der internationalen Hippieszene: Hausen in Höhlen, Kiffen in Cafés und Tanzen auf Vollmondpartys zu Technomusik. Gesucht wird das kosmische Gesamterlebnis  ■ Von Nadine Barth

Verschlafen reibt sich Simone, 19, die Augen und zieht den Reißverschluß des Schlafsacks höher. Es ist kalt auf dem Dach des Krishna-Guest-House, ganz früh noch, die ersten Sonnenstrahlen blitzen hinter dem Felshügel. In mattem Gelb erstrahlt die Spitze des Virupaksha-Tempels. Simone schaut ins Licht, das immer tiefer den treppenförmigen Turm hinunterkriecht, über die Ornamente gleitet und die Figuren plastisch hervortreten läßt. Simone schließt beglückt die Augen und träumt sich in den Tag hinein. In einen weiteren Tag in Hampi.

Das kleine Dorf im indischen Bundesstaat Karnataka ist ein Geheimtip für Traveller, Indienfreaks und Sinnsuchende. Sie lieben den mystischen Touch der Tempelruinen, die skurrile Landschaft aus meterhohen Gesteinsbrocken und wüstem Gewächs, und vor allem die Freiheit, die sie dort genießen können. Seit im Aussteigerparadies Goa unter dem Druck des wachsenden Tourismus die Drogengesetze schärfer überwacht werden, Nacktbaden längst verpönt ist und wilde Strandpartys nur gegen hohe Bestechungsgelder laufen, fühlen sich die Hippies dort nicht mehr so recht wohl. Nun haben sie ein neues Mekka gefunden.

In Hampi stört sich keiner daran, wenn in den Cafés schon zum Frühstück die Joints kreisen, wenn zwischen den Felsen der Urschrei geprobt wird und FKK-Jünger im Tungabhadra-Fluß planschen. Schon Ende der sechziger Jahre entdeckten zivilisationsmüde Westler die unzähligen Höhlen um Hampi und übten sich in Harmonie mit Natur, Körper und Bewußtsein. Ein Vorbild fanden sie in dem indischen Heiligen Bhadramuni-Sahajanandganji, der mehrere Jahre als Eremit in Höhlen lebte, bis seine Erleuchtung Scharen von Jüngern anzog. Sie bauten oberhalb von Hampi einen Ashram, der 1967 eingeweiht wurde. Jahrelang fand er großen Zulauf. Heute sind die heruntergekommenen Betonklötze des Ashrams größtenteils verlassen, nur ein paar Angestellte wohnen noch dort und kümmern sich um das Gebetshaus. Ende der siebziger Jahre wurden die letzten Hippies aus den Höhlen vertrieben. Der Ort geriet aus dem Blickfeld der Szene.

Hauptsächlich Studienreisende interessierten sich nun für die Tempelstadt, um dem Glanz des einst mächtigen Vijayanagara-Reiches nachzuspüren: Die letzte der zahlreichen Hindu-Dynastien wurde 1565 von muslimischen Heeren besiegt, Hampi wurde zerstört. Immer noch sind Archäologen mit Ausgrabungen und Vermessungen des sich über 65 Quadratkilometer erstreckenden Ruinenfeldes beschäftigt. Die Dorfbewohner der paar Hütten rechts und links der Tempelarkaden beschränkten sich darauf, indische Pilger durch die noch erhaltenen Heiligtümer zu führen. Eine beschauliche Atmosphäre. Vor drei Jahren änderte sie sich schlagartig, als der deutsche Techno-DJ Jörg, 28, auf die Idee kam, in einem der Tempel in der Umgebung eine Party zu veranstalten. Er hatte die ewig gleichen Strandfeten in Goa satt, lud ein paar Freunde in seinen Bus und reiste zehn Stunden über Schlaglöcherstraßen nach Hampi. In der Travellerszene sprach sich die legendäre Party im „Underground Temple“ schnell herum. Aber auch daß Hampi einfach ein „Super-Ort“ sei. Das Argument: „Eine Atmo wie in Stonehenge, du weißt schon ...“

Es ist 9 Uhr morgens. Die Schläfer zieht es zur einzigen Dusche, einem dunklen Loch mit Wasserhahn in Bauchhöhe. Ein Eimer kaltes Wasser wird gefüllt und über den Kopf gegossen, über dem Ausguß am Boden sammelt sich eine schmierige Suppe aus Seife und Sand. Selbst so eine Dusche ist Luxus in Hampi: Vor ein paar Jahren gab es noch nicht einmal Plumpsklos, heute debattiert man schon über ein Fünfsternehotel auf der anderen Seite des Flusses. Die Bewohner Hampis haben es verstanden, von der Hippie-Welle zu profitieren. Die Zahl der verfügbaren Zimmer ist im letzten Jahr von 60 auf 200 geklettert, jede Familie rückt zusammen, damit noch ein Eckchen vermietet werden kann. Eine dünne Matratze auf dem Steinboden – schon können 50 bis 70 Rupie (unter 2 Mark) pro Nacht verlangt werden.

Auf der Dorfstraße kommt gerade der klapprige Bus aus Hospet an, der nächstgrößeren Stadt mit Bahnanschluß, und bringt eine neue Ladung Hampi-Besucher. „Room, room, come!“ rufen ihnen die kleinen indischen Jungs zu. Nicht daß die Dreikäsehochs wirklich ein Zimmer anzubieten hätten, sie laufen einfach vor, quatschen andere Inder in den Gassen an und verlangen bei erfolgreicher Vermittlung ein paar Rupien. Doch heute läßt sich kein Geschäft machen. Alles besetzt. Zwei Tage noch, dann ist Vollmond, und es soll wieder eine Techno-Party geben. Niemand weiß Genaues, doch allein das Gerücht reicht, um mehrere hundert Indienfreaks zu mobilisieren. Sie komme aus allen Richtungen, die meisten aber aus Goa, wo seit Wochen Zettel kleben: „Fullmoon-Party in Hampi“.

In der Bar „Shambu“ sitzt Gianmaria, 10, bei einem Kakao und zeichnet. Er kommt aus Norditalien, seine Eltern, beide Lehrer, machen ein Jahr Job-Pause und haben ihn aus der Schule genommen. Seit sechs Wochen sind sie schon in Hampi. Gianmaria bezeichnet das Lokal als „seins“ und erzählt stolz, daß der „Patrone“ auch aus Italien komme – ein gewisser Roberto. Weil der Italiener und ausgesprochene Hampi- Fan seine gewohnten Spaghetti hier vermißte, gab er dem indischen Besitzer der Bar 35.000 Rupien (etwa 2.000 Mark), um die nötigen Anschaffungen zu tätigen: moderner Herd, Mikrowelle, Töpfe, Espressokanne. Man vergrößerte den Laden, setzte Pizza und frische Pasta auf die Speisekarte, und, siehe da, es wurde eine Goldgrube. Und Roberto kann seine Spaghetti bestellen, wenn er mal wieder in der Gegend ist.

Überhaupt haben sich die Hampi-Leute auf die Bedürfnisse ihrer Gäste gut eingestellt. Es gibt Müsli, Obstsalat und Biogemüse („Eat well & live long“), sorgfältig zubereitet auf frisch gepflückten Bananenblättern, und an den Kiosken baumelt westlicher „Luxus“: dreilagiges Klopapier (die Inder benutzen Wasser zum Abputzen). Nur eines gibt es in dem Dorf der Träume nicht: Alkohol. Keine Bar hat eine Lizenz, auch schwarz ist höchstens ein schlechtgebrannter Zuckerrohrschnaps zu bekommen. Während in Goa das leichte einheimische Bier in den 0,6-Liter- Flaschen, das „Kingfisher“, der absolute Hit ist, müssen die durstigen Hippies in Hampi auf banales Mineralwasser ausweichen und sich ihren Kick anderweitig besorgen. Was sie auch tun. In jeder Gruppe ist immer einer damit beschäftigt, „ein Rohr zu bauen“.

Nach dem ausgedehnten Frühstück steht auch für die blonde Simone „Kultur“ auf dem Programm: Die umliegenden Tempel werden besichtigt. Doch Detailwissen ist nicht gefragt: Was zählt, ist das intuitive Erfassen der sagenumwobenen Historie, sensibles Erspüren seiner Bedeutung, eine Empfänglichkeit für die Aura der Umgebung. Ob mit oder ohne Droge: Jeder kriegt hier irgendwann seinen persönlichen Flash.

So wie Nick. Der 21jährige Engländer wollte auf der ihm von den Eltern zum College-Abschluß geschenkten Kurzweltreise das kleine Hampi eigentlich in einem Tag abhaken. Doch als er zwischen den Ruinen des Vitthala-Tempels hockte und ein indischer Junge gedankenverloren mit einem Zuckerrohr auf die dünnen steinernen Pilarsäulen einschlug, Töne erklangen wie auf dem Xylophon seiner Kindheit, da war ihm klar, daß er bleiben mußte – so lange, bis er hinter das „Geheimnis seines eigenen Klingens“ kommen würde.

Der bärtige Amerikaner Malcolm, 44, der mit seinen weißen zottigen Haaren wie ein indischer Sadhu aussieht, verbringt seit zehn Jahren jeden Winter in Hampi. Der Künstler begeistert sich für die „Vielfalt und Mystik der Steinformationen“, hält sie in Aquarellen fest, nur um diese wieder zu verbrennen – ein kultischer Akt, Kraftquelle für den Sommer, wenn er als Erntehelfer in Südfrankreich jobbt.

Ganz anders die beiden israelischen Mädchen, die schon seit Stunden im Schatten des Cafés „Bom Shankar“ bei laut scheppernder Janis-Joplin-Musik herumhängen. Für sie ist Hampi Inbegriff ausgelassener Aussteigerphantasien. Mit einer Gruppe Franzosen nächtigen sie in den Höhlen auf der anderen Flußseite.

Wie für die beiden israelischen Mädchen ist auch für die blonde Simone Hampi der „coolste Ort, den man sich vorstellen kann“. Mit als Kellnerin sauer verdientem Geld hat sie sich ihren Indientraum erfüllt: ein paar Wochen Sonne und Spiritualität, bevor für die Neunzehnjährige mit einem Pädagogikstudium der Ernst des Lebens beginnen soll. Zunächst war sie in Goa, natürlich, dort hat sie ihre ersten Trips eingeworfen, dort hat sie sich verliebt: in Steffen, 24, einen

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Studenten der Kommunikationswissenschaft aus Lüneburg, der vor einem halben Jahr „ausgestiegen“ ist. Er schwärmte ihr von einer „Landschaft mit Seele“ in Hampi vor, und kurzerhand kam sie mit. Nun sitzen sie gemeinsam stundenlang einfach nur da und lassen sich vom Schauspiel der Natur einlullen: dem trockenen Wind in den Palmenzweigen, dem Knistern der holzigen Sträucher, dem Zusammenspiel der Vögel, Grillen, Felshörnchen und Kletteraffen – „total geil“, meint Steffen. Er will auf jeden Fall weiter durch Indien ziehen, doch Simone ist skeptisch: Nach der Techno-Party hier in Hampi soll Schluß sein.

Den Rückflug hat sie schon. Aber heute ist Mittwoch, und morgen wird das „absolut irrste Fest“ stattfinden, die ganze Nacht will sie tanzen, vielleicht einen Trip einschmeißen und noch einmal das erleben, weswegen sie nach Indien gekommen ist: Intensivität.

Tanzen in den Tempeln. Auch in der Blütezeit der Hindu-Dynastien wurden Feste mit Musik gefeiert. Die portugiesischen Reisenden Paes und Nuniz berichten von einem gigantischen Fest des Hindukönigs Krishnadeva Raya im Jahre 1516 vor seiner Expedition nach Orissa: Vor einer Schar von tausend Gefolgsleuten gab es eine Show mit Tanzmädchen, Tieropfern, Elefantenparaden und Feuerwerk. Von der illustren Kultur der Tempelbewohner zeugen die eingemeißelten Abbildungen an den Steinwänden: Der flötenspielende Krishna taucht mehrmals auf, und im Virupaksha-Tempel ist eine tanzende Dienerin zu sehen, das Bein hochgeworfen, die Rockfalten aufgefedert wie ein Pfauenkleid. Auch bei Totenfeiern wurde den Göttern zu Ehren mit Musik aufgespielt. Die Empfangshalle des Königspalastes diente als Tanzplattform, der steinerne Wagen im Vitthala-Tempel zur Prozession der Götter. Er sollte die Edlen und Tapferen zum Himmel geleiten, durch das offene Tor empor, hin zu einem höheren Sein.

Die Gerüchteküche läuft auf Hochtouren

Die nächtlichen Tänzer der heutigen Zeit wissen von diesen Gebräuchen. Ihnen geht es beim Tanzrausch zwischen antiken Säulen nur um das Gefühl des Mystischen. Doch schon die zweite große Party im Underground Temple war eigentlich eine Enttäuschung. Lief die erste noch mehrere Tage hindurch, war diese nur auf eine Nacht beschränkt. Auch hatte man aus Rücksicht auf das archäologische Camp ein paar hundert Meter weiter die Boxen nur zu einer Seite gedreht. Doch die nächste Party zwischen den Felsen auf der anderen Flußseite war es dann wieder: Das Goa-Feeling stellte sich ein, die Techno-Fans kamen auf ihre Kosten.

In der Dorfstraße, bei Einheimischen auch „Bazar“ genannt, läuft die Gerüchteküche auf höchsten Touren. DJ Jörg, der schon für die allererste Hampi-Party verantwortlich zeichnete, soll wieder kommen, er soll schon unterwegs sein, mit Anlage und allem Drum und Dran, die Party wird stattfinden, ganz bestimmt. Aufgeregt wartet man auf die Ankunft seines Busses mit Bochumer Kennzeichen und der Aufschrift „Technotorgon“, der die letzten Wochen auf den Felsen am Vagator Beach in Goa stand. Simone und Steffen sitzen auf den Felsen oberhalb des Dorfes. Der Turm des Virupaksha-Tempels zeichnet sich nur noch schwach gegen den Himmel ab, hinter den Hügeln geht langsam die Sonne unter. Sie reden nicht, berühren sich nicht, schauen nur mit sanftem Blick in das rotgoldene Licht.