Endlich wieder Goldjunge

Warum der chinesische Filmemacher Zhang Yimou sich gezwungen sah, einen derart hohlen Film wie „Shanghai Serenade“ zu machen  ■ Von Tony Rayns

Zhang Yimou hat schließlich genau das getan, was seine politischen Feinde in China ihm immer vorgeworfen haben: Er hat einen Film gemacht, der vor allem dem Westen gefallen sollte. Ironischerweise hat er dieselben Feinde auch zufriedengestellt, indem er einen Film ohne jegliche politische Anspielung oder allegorische Implikation gedreht hat. „Shanghai Serenade“ ist Zhangs schwächster und uninteressantester Film seit dem längst vergessenen „Codename Cougar“ über einen Flugzeugentführer, den der Regisseur 1989 schnell runtergedreht hatte (kurz nach dem Erfolg von „Rotes Kornfeld“ bei der Berlinale) in der Hoffnung, damit schnell Geld zu verdienen. Der neue Film markiert eine Zäsur in Zhangs Laufbahn ... und vielleicht auch im „Neuen Chinesischen Kino“, das Zhang mit ins Leben gerufen hat.

Über den Film selbst gibt es nicht viel zu sagen. Er strengt sich sehr an, künstlerisch und modern zu wirken, bewegt sich aber letztlich innerhalb eines erstaunlich banalen Ideengerüsts. Tang, der skrupellose Pate der mächtigsten Gang Shanghais in den dreißiger Jahren, wird Opfer eines Attentats. Er zieht sich aus seiner Luxusvilla auf eine Insel vor der Küste zurück, mit seiner Mätresse Bijou, einer Nachtclubsängerin, und einer kleinen Gruppe von Dienern. Bijou entdeckt die unschuldige Menschlichkeit wieder, die sie in der rauhen und materialistischen Großstadtwelt verloren hatte. Tangs Rache an seinen Feinden ist, wie sich zeigen wird, gnadenlos. Die Geschichte wird aus der Perspektive eines 14jährigen erzählt, eines Jungen, der gerade erst vom Land in die große Stadt gekommen ist und Bijou als Lakai dienen soll. Im Laufe der acht Tage, die die Geschichte dauert, durchläuft der Kleine einen Crashkurs in Sachen städtischer Moral und Heuchelei.

Einige Kritiker haben sich abgemüht, dieser Anthologie von Gangsterklischees und thoreauesken Platitüden eine höhere Bedeutung zu entlocken. So wird beispielsweise vermutet, der Junge repräsentiere die Lage der Bauern im heutigen China, die zu Tausenden in die Städte ziehen, geblendet von deren Reichtum und dazu verdammt, Enttäuschung und Not zu leiden. Andere wieder glauben, daß Bijou, die heimlich ein Verhältnis mit Tangs Leutnant Song hat, irgendwie Zhang Yimou selbst repräsentiert, gefangen zwischen seinen kommunistischen Herren und seinen westlichen Financiers. Die offensichtliche Absurdität dieser Vermutungen unterstreicht nur die simple Tatsache, daß dieser Film genauso einfältig-schematisch ist, wie er aussieht. Er hat keine versteckte Tiefe.

Also warum hat Zhang Yimou ihn gedreht? Er ist schließlich ein Regisseur, der immer auf seiner Affinität zu Geschichten bestanden hat, die mehr als eine Dimension enthalten, und zu Bildern, die metaphorische Tiefe und Resonanz haben. Die Antwort, so scheint es, liegt darin, daß der Film ein Vabanquespiel war, das eben danebenging. Zhang, der mir noch vor zwei Monaten in Peking sagte, er sei sich der Schwächen des Films sehr genau bewußt, macht sich nun Vorwürfe, ihn zu schnell gedreht, sich hineingestürzt zu haben, sobald das Filmbüro die Erlaubnis erteilt hatte, ihn als eine Produktion der Shanghai Film Studios zu drehen.

Die Eile ist schlicht Ausdruck der Erleichterung darüber, daß er überhaupt genehmigt wurde. Zwei Monate vorher nämlich, im Herbst 1994, war das Projekt noch während der Vorbereitungsphase gestoppt worden. Damals sollte es eine Produktion der französischen UGC sein, die den Fim bereits in alle Welt verkauft hatte. Die chinesischen Behörden gestatteten UGC großzügig, die Rechte für den internationalen Vertrieb zu erwerben – als Gegenleistung verlangten sie allerdings eine Summe, die nicht allzuweit von den Produktionskosten entfernt war.

Als das Projekt gestoppt war, schien es, als solle Zhang Yimou dafür bestraft werden, daß sein voriger Film, „Leben!“, in den Wettbewerb nach Cannes geschickt worden war, ohne der Zensurbehörde des Filmbüros vorgelegt worden zu sein. Als dann das Projekt als eine einheimische, chinesische Produktion reanimiert worden war, wurde klar, daß die Behörden diese Vorwürfe lediglich vorgebracht hatten, um Zhang zu zwingen, wieder für die staatliche Filmindustrie zu arbeiten. Wie andere Filmemacher der sogenannten Fünften Generation auch, hatte sich Zhang nach dem Massaker auf dem Tiananmen bereits daran gewöhnt, für ausländische Produzenten zu arbeiten. Durch diese Arbeit, für Firmen in Hongkong, Taiwan und Japan, hatte er Zugang zu höheren Budgets und technischen Standards; sie verschaffte ihm auch größeren künstlerischen Bewegungsspielraum und einen gewissen Schutz vor der Willkür der chinesischen Zensur.

Im Sommer 1994, als die staatlichen Filmstudios kurz vor dem völligen Zusammenbruch standen, wurde den Behörden in Peking klar, daß die einzige Hoffnung auf eine Wiederbelebung der chinesischen Filmindustrie darin bestand, die erfolgreichsten Filmemacher des Landes dazu zu bewegen, wieder für ihre Heimat zu arbeiten. Zhang war ihr Versuchskaninchen. Er war gezwungen zu akzeptieren, daß er nur dann wieder würde Regie führen dürfen, wenn er für die staatliche Filmindustrie arbeitete. Also beeilte er sich, das Script für „Shanghai Serenade“ umzuschreiben – indem er einen Großteil der gewalttätigen Szenen strich, die Rolle der Bijou (gespielt von Gong Li) mehr ins Zentrum rückte und indem er die Geschichte aus der Perspektive des Jungen erzählte – um die revidierte Fassung umgehend in die Produktion für das Shanghai Studio zu geben.

Letztlich wollte er sich, glaube ich, einfach eine Atempause verschaffen. Er wollte einen sedierenden Unterhaltungsfilm machen, der UGC gefällt und dem Filmbüro in keiner Weise mißfällt. Es war ihm wichtig, einen Film zu machen, der keine politische Kontroverse provoziert und keinen weiteren cause célèbre der Zensur. Natürlich hat er nicht beabsichtigt, aus „Shanghai Serenade“ einen hohlen und heuchlerischen Film zu machen. Er wollte eine einfache emotionale Wahrheit über moralische und existentielle Werte zum Ausdruck bringen, außerdem sollte es aber auch eine visuelle und akustische Tour de force sein. Wenn Zhangs Rechnung aufgegangen wäre, hätte er dafür eine Auszeichnung von einem weiteren großen Festival erhalten und wäre von den chinesischen Behörden als Goldjunge gefeiert worden, wie er es schon einmal nach der Preisverleihung für „Die Geschichte der Qiu Ju“ in Venedig erlebt hat. Das hätte ihm die Kraft und den Spielraum verschafft, den er braucht, um herauszufinden, wie er wieder die Art von Film machen kann, die er machen will.

Die Last, die Zhang Yimou schon sein ganzes Leben mit sich herumschleppt, ist eine politische. In der Phraseologie der chinesischen Kommunisten ist das ein „schlechter Klassenhintergrund“. Die Familie seines Vaters stand in enger Verbindung zu den KMT, den Nationalisten, die im chinesischen Bürgerkrieg auf der Verliererseite standen. Dadurch ist Zhang in einer völlig anderen Lage als seine Altersgenossen Chen Kaige und Tian Zhuangzhuang, die beide aus bekannten kommunistischen Familien kommen. Chen war in zahlreiche Auseinandersetzungen mit der Zensur verwickelt, und Tian ist sein ganzes Leben lang mal mehr, mal weniger in politische Querelen geraten. Aber keiner von beiden hatte je ernsthafte Schwierigkeiten mit den Behörden. Zhang hingegen ist unbegrenzt belangbar; dem Druck von oben permanent ausgesetzt. Er kannte sein Leben lang nichts anderes, aber es ängstigt ihn noch immer. Die düsteren und kapriziösen Patriarchen in „Judou“ oder „Rote Laterne“ stammen von einem Künstler, der weiß, was es heißt, Vaterfiguren zu fürchten.

Was wird Zhang jetzt tun? Ganz sicher wird er keinen weiteren Film wie „Shanghai Serenade“ machen, aber ebenso sicher kann er nicht wieder Filme machen, die kaum verhüllte politische Kommentare zu Chinas politischen und kulturellen Problemen sind. Eine zusätzliche Komplikation besteht darin, daß sein nächster Film, was immer das sein wird, mit größter Wahrscheinlichkeit ohne Gong Li zustande kommen muß. Zhang hat ihre außerfilmische Beziehung mit kategorischer Strenge im Februar beendet, direkt nach den Dreharbeiten zur „Shanghai Serenade“, als Gong ihm sagte, daß sie sich mit einem anderen Mann treffe. Diese impulsive Entscheidung scheint er inzwischen ebenso zu bereuen wie sie. Wahrscheinlich werden sie eines Tages wieder zusammenarbeiten, und zwar an dem historischen Epos „Die Kaiserin Wu“ über eine skrupellos ehrgeizige Frau, mit der die Tang-Dynastie vor tausend Jahren endete. Er wurde bereits von der französischen Firma CB 2000 gekauft, ein vorläufiges Drehbuch ist geschrieben. Aber Zhangs nächster Film wird für ein chinesisches Studio gedreht werden müssen, und Gong Li wird wahrscheinlich nicht darin auftreten.

Zhang, dessen Filme immer auf bereits vorliegenden Romanen oder Kurzgeschichten basierten, steht zur Zeit in Verhandlung mit einer Reihe von chinesischen Schriftstellern.

Er hat ihnen allen die gleiche Herausforderung gestellt: eine glaubwürdige Liebesgeschichte zu schreiben, die in der Gegenwart spielt.

„Shanghai Serenade“ von Zhang Yimou. Kamera: Lu Yue. Mit: Gong Li, Li Baotian, Shun Chun u. a. Volksrepublik China/Frankreich 1995, 109 Min.

Tony Rayns ist Europas profiliertester Kritiker des asiatischen Kinos. Im kanadischen Vancouver stellt er alljährlich eine Filmreihe mit den neuesten Beiträgen aus der Region zusammen.

Übersetzung aus dem Englischen: Mariam Niroumand