Russische Lektionen

Literaturnobelpreisträger Alexander Solschenizyn betätigt sich neuerdings als Fernsehprediger. Aus den Ruinen seines Weltformats sprechen Altersstarrsinn, Feldherrngehabe und Fremdenhaß  ■ Von Tatjana Tolstaja

Was für ein seltsames Spektakel dies ist: Alexander Solschenizyns zweiwöchentliche Sendungen im russischen Fernsehen. Am späten Abend, wenn der lange Moskauer Tag zu dämmern beginnt und der Staub von den Baustellen sich setzt, ergießt der Schriftsteller mit der forschen, lauten Fistelstimme einen Strom von Banalitäten, Platitüden und Ausrufen („Es ist ein Alptraum!“, „Es ist schrecklich!“, „Eine Schande!“), während er mit den Armen wedelt und sie der Fernsehkamera entgegenstreckt, die Hände zur Decke erhebt oder sogar sein Gesicht mit ihnen bedeckt, als könne er den Gedanken an so viel Schrecken nicht länger ertragen. Er verdammt alles, was sich ihm gerade anbietet. Und auf seine eigene Weise hat er absolut recht damit – wie ein ältlicher Rentner, der auf der Bank im Hof sitzt, um vor dem Schlafengehen ein bißchen frische Luft zu schnappen, die in seinem Leben angesammelte Verstörung herauszulassen und gegen das Leben zu murren, das nicht auf ihn gehört hat.

Solschenizyn schäumt zweimal im Monat für fünfzehn Minuten, Montag abends ab etwa viertel vor Zehn. Es ist eine gute Zeit: ein harter Tag ist geschafft. Die Mercedes-Limousinen sind durch die Rotlichtbezirke gefahren, um reiche „New Russians“ zu Nachtclubs zu bringen. Die professionellen Bettler haben ihre selbsthaftenden künstlichen Wunden entfernt, ihre brandigen Beine abgeschnallt und ihre Tageseinnahmen verstaut. Obdachlose breiten ihre Bettstätten unter warmen Rohren in Kellern aus. Die Kinder sind im Bett, junge Männer hängen am Telefon, um mit ihren Freundinnen zu flirten, die Eltern sind mit dem Abendessen fertig, haben die sieben Riegel ihrer Stahltüren vorgeschoben und verschlossen – und gähnen. Es ist Zeit zu entspannen. Was ist auf den anderen Kanälen? Ein Musikvideo, eine neue Fernsehshow, die Wiederholung einer Fernsehshow, ein Film und die Sendung „Reporter“, die „die Geschichte eines Augenzeugen des Ausbruchs des berühmten Krakatau-Vulkans in Indonesien“ bietet. Ist das Monster nicht im Jahre 1883 ausgebrochen ... kann es das wirklich sein? Aber vielleicht meinen sie den Ausbruch von 1952? Das wäre aktueller und vielleicht eine wichtigere Nachricht, als was der Nobelpreisträger uns zu erzählen sich beeilt: Er hadert unversöhnlich mit den Ungerechtigkeiten in der Gewerkschaftsorganisation der UdSSR der zwanziger Jahre.

„Eine Schande“, so züchtigt der Schriftsteller vom Bildschirm her. Putzfrauen, die Hotelhallen aufwischen, halten für einen Moment inne und lehnen sich auf ihre Besen. Sie stimmen aus vollem Herzen zu: „Das ist richtig, eine Schande! Hier bin ich, arbeite in drei Jobs, und das Brot ist wieder teurer geworden. Dieser Luschkow [Bürgermeister von Moskau] sollte mit dem Rest von denen ins Gefängnis geworfen werden! Es ist diese demokratische Mafia!“ Der Schriftsteller hört sie nicht, noch hören sie ihn.

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Es heißt, Taube leben länger. Solschenizyn sieht überraschend jung aus: frisch, rotwangig, wenige Falten, funkelnde Augen – munterer als manche Fünfzigjährigen. Wenn man ihn so sieht, würde man nie vermuten, daß dieser Mann lange Jahre in Lagern verbracht hat, hungernd und unter Kälte leidend, daß er schwer krank gewesen ist (er sagt, es sei Krebs gewesen), daß er jahrelang verfolgt worden ist. Es ist auch wahr, daß das Schicksal es ungewöhnlich gut mit ihm gemeint hat, denn ihm waren weltweiter Ruhm, tonnenweise Geld, zwanzig friedvolle Jahre in Vermont, eine treue und liebende Ehefrau, gesunde und talentierte Söhne zuteil. Die ganze Erscheinung des Schriftstellers gibt eine wunderbare Werbung für die Segnungen freiwilliger Einsamkeit auf dem Lande ab. Gemüse. Frische Luft. Volleyball mit den Kindern. Arbeit in Maßen. Keine Fremden. Ein hoher Zaun.

Dies scheint sein Modus operandi zu sein: Laß niemand von draußen hinein. Jedenfalls vertrieb er bei Gelegenheit die Gäste, die zunächst eingeladen wurden, in seiner Sendung aufzutreten. Die Meinungen anderer Leute störten ihn. Er fand das Genre des Monologs angenehmer, gemütlicher. Die Sendung ist eine Aufzeichnung, keine Zuschaueranrufe bedrohen ihn. Die Themen sind nicht von heute oder sie sind abstrakt, die Ermahnungen so vage („die Menschen sollten aufrichtig sein“), die Drohungen so nebulös („wenn wir nicht alle zusammenhalten, werden wir untergehen“), daß manche Leute, ich weiß es aus sicherer Quelle, den Ton abdrehen und nur die Gestikulation anschauen, die sanften Bewegungen des Rückgrats und die Mimik, als ob „das Gewissen Rußlands“ einen Aerobic-Kurs abhielte.

Das Gerücht will es, daß er nicht nur kein Geld für seine Auftritte bekommt, sondern daß er eine bedeutende Summe für Monate im voraus gezahlt hat, um sich seine Sendezeit zu kaufen. Es tut mir ziemlich leid um ihn: Der alte Mann gibt sich Mühe, bereitet sich vor, glaubt. (Wie streng ermahnte er sich im BBC-Film über seine Rückkehr ins Vaterland: „Einen starken, gedankenvollen Gesichtsausdruck“, bevor er aus dem Flugzeug ausstieg.) Der alte Mann ruft lautlos, wedelt mit seinen Armen im Dunkel, rauft sich das Haar und fliegt wie ein körperloser Geist in einem Elektronenwirbel durch den gleichgültigen Äther, um gegen meinen Fernsehschirm zu klopfen, bettelnd, man möge ihn herauslassen mit seinen schimmligen Prophezeiungen, während ich, grausam, mit einem Auge die Serie „Bellissima“ verfolge und mit einem anderen eine Zusammenfassung der Ereignisse vom Tage lese und mit einem dritten, (ja doch, wir befinden uns in Rußland), eine Literaturzeitschrift durchkontrolliere und mit dem vierten und all den anderen den Herd bewache, damit das Fleisch nicht anbrennt.

Solschenizyn weiß immer genau, was getan werden sollte und wie. Er ist wahrhaftig enttäuscht, daß niemand ihn nach Rat gefragt hat, als die Welt erschaffen wurde. Er hätte bei der Berechnung der Umlaufbahn der Elektronen eine besseren Job getan als Gott der HErr, er hätte sinvolle Korrekturen ins Periodensystem der Elemente eingeführt, er hätte die Doppelhelix in die entgegengesetzte Richtung gedreht. Der Bequemlichkeit halber ist sein Ansatzpunkt, daß Rußland derzeit ohne Form ist und leer (und korrupt und unmoralisch, und daß das GANZE Land, ausgenommen der Schriftsteller, die russische Sprache vergessen hat), und daß der Heilige Geist über den Wassern wabert, sich fragend, wo es am praktischsten wäre anzufangen.

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In seinem früheren Essay, „Rußlands Weg aus der Krise“ (Piper Verlag 1991), hat Solschenizyn seine Version dargelegt, wie man die UdSSR auseinanderreißen sollte. Oder, präziser, wie man Stücke zerstückeln sollte. Zu dieser Zeit gewannen separatistische Ideen schnell Boden. Unter dem Slogan der Demokratie und dem Vorwand der Freiheit forderte jeder Misanthrop oder Rassist, der seine Nachbarn nicht leiden konnte, daß er von ihnen geschieden werden solle, oder am besten – daß sie verprügelt und vertrieben werden sollten. Solschenizyn schlug eine russozentrische Version des Separatismus vor: Haltet Rußland, die Ukraine, Weißrußland und einen Teil von Kasachstan (historisches russisches Territorium) zusammen, und schmeißt alle anderen raus, ob sie es mögen oder nicht. Die russische Bevölkerung der anderen Republiken sollte nach Rußland umgesiedelt werden. In anderen Worten, rette deinesgleichen und laß die anderen ihre Angelegenheiten selbst regeln. Und laß die Wirklichkeit – Gegenwart und Vergangenheit – sich diesem grausamen Plan anpassen. Bis man einen Globus in die Hand nimmt, verwundert es einen. Warum fliegt ein Flugzeug von Amerika nach Europa fast über den Nordpol? Solschenizyn will mit dem Globus nichts zu schaffen haben, seine Erde ist flach, und ihre Bewohner sind einfache Leute. Im Garten seiner Phantasie wandeln Ukrainer Arm in Arm mit Russen, werfen einen lüsternen Blick auf die Armenier und vetreiben die Tadschiken mit einer Rute. Zu der Zeit, als er „Die russische Frage“ schrieb (März 1994), war das russische Imperium schon auseinandergebrochen, wenn auch nicht aus eigenem Antrieb, sondern als Resultat von Jelzins Eile, die Macht aus den Händen von Gorbatschow zu übernehmen (man lese Jelzins Autobiographie, in der er selbst davon schreibt).

Wo wir gerade dabei sind, sollte ich ein eigenartiges Paradox erwähnen: Leute, die mit dem Zusammenbruch der UdSSR unglücklich sind, und es werden immer mehr, weil fast jeder darunter leidet, beschuldigen nicht Jelzin, der die Übereinkunft von Beloschevsky im Dezember 1991 unterschrieb, sondern Gorbatschow, der das Imperium um jeden Preis zu retten versuchte und die Macht eben deshalb verlor. Ich spreche

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nicht nur von den Taxifahrern, die einst davon träumten, Gorbatschow zu hängen, weil der Zucker, den sie zum Schwarzbrennen brauchten, verschwunden war. Diese seltsame Sehstörung ist ebenso charakteristisch für die demokratischsten Demokraten. Ich muß gestehen, daß ich das nicht verstehen kann.

Dies ist ein typisches Moskauer Küchengespräch. Ich sage: „Infolge von Jelzins Handeln sind Hunderttausende Menschen aller Nationalitäten in ethnischen Konflikten umgekommen.“ Mein Gesprächspartner zuckt nur mit den Schultern: „Na ja, was kann man tun, die Verrückten hören nicht auf, sich gegenseitig umzubringen.“ – „Aber unter Gorbatschow“, fahre ich fort, „haben wir alle gejammert und geklagt, wenn acht Leute in Tbilissi bei einer Demonstration umkamen ...“ – „Nicht acht, es waren achtzehn. Achtzehn!“ – „Was macht den Unterschied?“ sage ich. „Es gibt einen enormen Unterschied! Enorm!“ Wenn ich frei heraus frage: „Tragen wir Russen nicht die Schuld dafür, daß, zum Beispiel, die Georgier und Abchasen gegenseitig so viele ihrer Bürger getötet haben“, dann bekomme ich zu hören: „Es ist Zeit für dich, dieses imperiale Schuldgefühl loszuwerden!“ Mein progressiver Gesprächspartner hat es schon geschafft: Der Preis ist anderer Leute Blut.

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Diese Meinungsverschiedenheit steht in direkter Beziehung zu Solschenizyns Text und meiner Ablehnung seiner Ansichten. Solschenizyn hat ebenfalls dabei geholfen, den Kollaps der UdSSR herbeizuführen: „Ein großes Imperium aufrechtzuerhalten bedeutet seine eigenen Leute der Vernichtung zuzuführen. Wozu dieses kunterbunte Amalgam? Damit die Russen ihre unverwechselbare Haltung verlieren?“ Solschenizyns Ideen haben, nach Meinung von Wladimir Lukin, dem früheren sowjetischen Botschafter in den USA, einen ziemlich großen Eindruck auf Jelzin gemacht (Lukin war der Vermittler bei ihrem Kontakt). Nicht alle seine Ideen, natürlich. Demokratie und Parlamentarismus verstand Jelzin auf seine eigene, unverwechselbare Art: Er schickte Panzer gegen das Parlament. Die Idee, die er sich zu Herzen nahm, war: „Schmeißt sie alle raus!“

Unter Gorbatschow war die Metapher einer „zivilisierten Scheidung“ populär unter den Demokraten, wann immer eine mögliche Sezession der einen oder anderen Republik diskutiert wurde. Aber eine solche Scheidung ist nur machbar, wenn jeder der Ehepartner irgendwohin gehen kann und über einen ausreichenden Unterhalt verfügt. In russischen Familien, im Gegensatz zu amerikanischen, leben oft drei Generationen in einer kleinen Wohnung, und es ist bei einer Scheidung für eine Frau nicht ungewöhnlich, ihren Ehemann und seine alte Mutter auf die Straße zu werfen. Aber was kann die alte Dame dafür? Es war genau diese Art von Scheidung, um die Metapher weiterzuspinnen, die Solschenizyn vorgeschlagen hat und immer noch vorschlägt. Wenn er in „Rußlands Weg aus der Krise“ nur die Scheidung in Betracht zieht, so geht er in „Die russische Frage“ dazu über, die gemeinsamen Kinder zu beklagen und der Schwiegermutter Vorwürfe zu machen.

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„Die russische Frage“ ist ein absichtlich tendenziöser, quasihistorischer Traktat, der zeigen will, daß die russischen Zaren sich in den letzten dreihundert Jahren ihrer Herrschaft unkorrekt benommen haben. Sie haben sich nicht um die inneren Angelegenheiten des Landes, die Moral und das Wohlergehen ihrer Untertanen gekümmert. Statt dessen haben sie unnötige Kriege geführt, sich Territorien angeeignet, die der Moral der Leute schädlich waren. Von den ersten Seiten an möchte der Leser fragen: Nun, und davor? Und wiederum davor? Waren die Landnahmen gerechtfertigt, bevor die Romanows die Macht übernahmen? Manchmal, gibt Solschenizyn zu, haben sogar die Romanows sich die richtigen Sachen gegriffen. So war „der von Alexis geführte Polnische Krieg sowohl notwendig als auch gerecht, denn er eroberte von den Polen usurpierte historisch russische Gebiete zurück.“ Dürfte man fragen: was sind „historisch russische Gebiete“? Jene, die in einem Kampf vor langer Zeit gewonnen wurden? Solschenizyn weiß ganz genau, daß das russische Volk eine Mixtur aus verschiedenen Stämmen ist, daß diese Mixtur zum Teil als Folge von Kriegen, Raubzügen und Aneignungen entstanden ist. Er schreibt: „Eine Vielzahl von Stämmen vermischte sich mit der russischen Ethnizität“, und das stimmt, aber er unterläßt es zu erwähnen, daß die russische „Ethnizität“ selbst extrem heterogen ist. Er vermeidet das delikate, komplexe Problem.

Wie dem auch sei, angefangen mit dem ersten Jahr der Romanow-Dynastie ist ihm alles klar. Der Zar Alexis Michailowitsch überzog „brutal und kriminell“ sein eigenes Volk mit Krieg, als er die Kirchenreform, das Schisma, durchführte. Peter der Große war „ein mediokrer, wenn nicht gefährlicher Geist“. Er öffnete ein Fenster nach Europa, brach zum Baltikum und zum Schwarzen Meer durch, erbaute Petersburg (eine „irrsinnige Idee“) und richtete keine Nachfolgeordnung ein. Obwohl in der Herrscherin Elisabeth „ein wahres russisches Nationalgefühl lebte“, warf sie Rußland „unverzeihlicherweise in europäische Händel und zweifelhafte Geschäfte, die uns so fremd sind“. Peter III. war „ein Nichts, ein Mann von magerem und flachem Geist, dessen Entwicklung auf einer kindlichen Stufe stehenblieb.“ Genug. Was folgt, ist eine Reihe von Verwünschungen. Wir überspringen sie.

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Dann kommt Katharina die Große... Aber hier werden Politik und Geschichte so komplex, daß Solschenizyn seine Zungenbrecher-Geschwindigkeit verlangsamt und seine Flüche ein wenig zurückhält, um uns einen Essay über europäische Diplomatie und Militäraktionen anzubieten, der so dicht ist, daß ein Leser, der kein Spezialist ist, den simultanen Machenschaften Polens, der Türkei, Englands, Frankreichs, Österreichs, Griechenlands, Preußens, Schwedens und Dänemarks unmöglich wird folgen können. Nicht zu vergessen Moldawien, die Walachei, einige Teile der nördlichen Bukowina, des westlichen Weißrußland, Zabrze, Wolhynien, Podolien, Holland, Spanien, Sizilien. Um die vier russisch-türkischen Kriege im achtzehnten Jahrhundert nicht zu erwähnen; die Teilung Polens etc.

Der Text wird unerträglich dicht, nur noch dem Gedicht über alles in der Welt vergleichbar, das der verrückte Dichter in Borges' Geschichte „Aleph“ schreibt. Und da sind noch eine Menge weitere Zaren: Paul, zwei Nikoläuse, drei Alexander ... Und das ist bloß Rußland!

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„Die russische Frage“ ist ein Essay. Der Stil ist eklektisch. Es ist eine Enzyklopädie mit einer Kruste aus Sarkasmus, Flüchen, bitteren Angriffen; der Autor tritt wechselweise das regierende Personal mit Füßen und lobt es mit Herablassung. Zunächst fragt er arrogant: „Auch wenn er Polen genommen hätte, würde Friedrich jemals gewagt haben, in die enormen Weiten Rußlands einzumarschieren?“ (Warum nicht? Andere „wagten“ es: Dschingis Khan, Karl XII., Napoleon, Hitler ... Rußland hat sein eigenes Wagnis unternommen und andere überfallen. So ist die Geschichte verlaufen, ohne Solschenizyn zu fragen.)

Ist man erst einmal durch dieses Unterholz gedrungen, beginnt man den Hauptpunkt zu sehen. Solschenizyns Hauptvorwurf gegen unsere unzähligen ungeschickten Herrscher ist, daß sie schlechte Imperialisten waren, die nicht für die Zukunft sorgten. Und er selbst ist vorausschauend, das ist der ganze Unterschied. So macht man nicht Krieg, mit solchen Leuten tut man sich nicht zusammen. Wenn sie auf ihn gehört hätten, wäre alles anders gelaufen. Zum Beispiel am Ende des achtzehnten Jahrhunderts: „... Rußland erreichte eine natürliche südliche Grenze: Das Schwarze Meer (die Krim eingeschlossen) und den Dnjestr (so wie es schon den Arktischen und den Pazifischen Ozean erreicht hatte). Wir hätten dort aufhören sollen ...“

Seltsame Logik! Solschenizyn hat gerade die Idee eines Feldzugs zur Erweiterung Rußlands bis zum Indischen Ozean verdammt, aber er befürwortet den Griff nach dem Pazifik. Er ist froh, daß Rußland sich am Schwarzen Meer festgesetzt hat, aber unglücklich über die Idee, sich den Bosporus anzueignen, über die Idee, slawischen Brüdern unter türkischer Herrschaft zu helfen. Er ist auch unglücklich über den Plan zur Befreiung der Griechen, orthodoxe Glaubensbrüder, von denselben Türken. Nicht unsere Angelegenheit! Er hält sich nicht für einen Imperialisten, aber erlauben Sie mir zu sagen, daß er schlimmer ist, er ist egoistischer als jeder Imperialist. Was auch immer seiner Meinung nach den Russen nützt, rechtfertigt er. Was immer ihnen schadet, nieder damit! Seiner Meinung nach gewann Rußland durch die Teilung Polens (1772) „das lange verlorene Weißrußland“ zurück, ein wenig später (1829) „sicherten wir die Unabhängigkeit der Griechen“. In meinen Augen ist das so außerordentlich zynisch, daß die Griechen und die Weißrussen verblüfft sein sollten. Ungeachtet der zahlreichen Verrücktheiten der russischen Zaren scheinen sie im Vergleich zu Solschenizyn zumindest einige romantische Kapricen gehabt zu haben, einigen Stil; bei unserem Schriftsteller sehen wir nur die engherzige Berechnung eines schlitzohrigen Bauern, der für einen Bettler kein Stück Brot übrig hat, weil er jede Krume für seine Schweine braucht.

Sogar der Sowjetimperialismus, in seiner poststalinistischen Version, scheint sanfter, humaner, demokratischer als Solschenizyns Variante. Hier ist sein Zugang zum tschetschenischen Problem (bevor der Krieg begann): „Wäre es nicht ebenso unsere Aufgabe, die Evakuation der Russen aus Tschetschenien zu organisieren, wo sie verspottet werden, wo Plünderungen, Gewalt und Tod sie jederzeit bedrohen?“ Als ob Russen keine Russen bestehlen, oder Tschetschenen keine Tschetschenen – wenn sie Diebe sind; als ob Russen nicht friedvoll Seite an Seite mit Tschetschenen in Tschetschenien leben, wenn sie normale Leute sind! Nun: Solschenizyn mag keine Fremden im Fernsehen, in seinem Landsitz in Vermont oder in unserem Land. Und „wir“ – schlechte, gastfreundliche Leute, die wir sind – wollen sie.

Vielleicht darf ich fragen, ob „wir“ denn wirklich so schlecht sind, wie es dem Schriftsteller gefällt, uns zu zeichnen. „Wir müssen ein moralisches Rußland aufbauen, oder überhaupt keines – es wäre sonst überhaupt nicht von Bedeutung.“ Vielleicht ist das unsere Moral? „Wir müssen die gute Saat schützen und nähren, die wie durch ein Wunder in Rußland nicht niedergetrampelt worden ist.“ Vielleicht ist unsere Gastfreundschaft, die Solschenizyn verdammt, eins der Samenkörner? Ich möchte meinen, daß unser unbeholfenes Volk, trotz all seiner Laster, liebenswürdiger ist als dieser ungebetene Ratgeber.

Es ist wunderbar, daß Solschenizyn unter Gefahr für sein eigenes Leben die russische Tragödie des zwanzigsten Jahrhunderts im „Archipel Gulag“ zusammengetragen und interpretiert hat; daß er ein Denkmal für die Millionen unschuldiger Leute geschaffen hat, die in den Lagern untergingen und damit das Gewissen einer ganzen Generation erweckte. Aber bedeutet dies, daß seine hausbackenen Rezepte zur Rettung Rußlands in „Rußlands Weg aus der Krise“ (was in der Zukunft getan werden sollte) und in „Die russische Frage“ (was in der Vergangenheit hätte getan werden sollen) ebenso großartig sind?

Für diejenigen, die gerne dem Schauspiel des Lebens zuschauen, ist dies nur eine Variation auf das Thema sic transit gloria mundi. Und je heller gloria strahlt, um so trauriger ist es, ihr transit zu bemerken. Das Traurigste und Lehrreichste von allem ist zu sehen, wie wenig Zeit nötig ist, um aufzusteigen und zu fallen, wie Menschen sich in den Ruinen ihres einstigen Weltformats einrichten. Man kann kaum anders, als die Treue dieser Sektierer zu bewundern. Wie viele vor ihnen wandern sie barfuß staubige Straßen entlang, schlagen die Trommel und verkünden, daß die Wahrheit gefunden ist – während das Leben, in seiner lauten Komplexität und Gerissenheit in die andere Richtung fließt und ihre kläglichen Gesänge überschwemmt.

Am nächsten Montag abend gibt es ein weiteres „Treffen mit Solschenizyn“. Wen wird er diesmal zurechtweisen? Wird irgend jemand zuhören? Im Wettstreit mit ihm wird es auf einem anderen Kanal unseres bescheidenen Fernsehens einen „Bericht aus Indien“ geben – „der Aufbau des Universums nach den Vorstellungen des bekannten Gurus Osh“.

Also sind sie doch den ganzen Weg bis zum Indischen Ozean gegangen, die Schurken. Auf den alten Mann haben sie nicht gehört.

Aus dem Englischen von Jörg Lau; mit freundlicher Genehmigung der New York Review of Books