„Der Rudolf soll wieder aufrecht gehen“

Wenn er jetzt reinkäme, würde er die Jacke ausziehen, nach Kaffee und einer Zigarette fragen und sich geborgen fühlen: Die Genossen vom Lahnsteiner Ortsverein glauben noch immer, daß Rudolf Scharping das Zeug zum Bundeskanzler hat  ■ Aus Lahnstein Thorsten Schmitz

„Wenn Männer heulen dürften, müßte er heulen.“ Gudrun Enders findet, daß „Rudolf“ böse mitgespielt wurde in Mannheim. „Aber ein Politiker, der weint – hat man sowas schon mal gesehen?“ Frau Enders Sohn Rainer hat vor 25 Jahren mit Rudolf Fußball gespielt. Wenn die Buben verdreckt und mit aufgescheuerten Knien in die Küche polterten, gab es Pflaster und gelbe Limo. Rainer arbeitet nun in Koblenz, Rudolf in Bonn; früher ist jetzt ganz weit weg.

Manchmal läuft Gudrun Enders extra bei „den Scharpings“ vorbei, obwohl die Wilhelmstraße nie auf ihrem Weg liegt. Und sie stellt sich vor, was passieren würde, wenn Rudolf Scharping aus dem Haus käme – der Rudolf, dem sie über den Kopf gestreichelt hat, wenn die Schrammen am Knie brannten. „Der hat jetzt ganz andere Sachen im Kopf.“ „Der Rudolf“, sagt Frau Enders und verstaut die türkische Pizza in ihrem Plastikbeutel, „muß ja gucken, daß er wieder aufrecht gehen kann.“

Dabei hilft ihm der SPD- Ortsverein Lahnstein – Rückgrat und Urmutter des gelernten Parteisoldaten. Scharping ist Lahnsteins bekanntester Export, und weil der stellvertretende Parteivorsitzende kraft seiner Fähigkeit zur Selbstsuggestion Trauer über den Königsmord von Mannheim nicht öffentlich zur Schau trägt, übernehmen diesen Part die Lahnsteiner Genossen.

Es gehört zu den Besonderheiten von Lahnstein, daß die Genossen ihre Bürgersprechstunde dienstags zwischen 17 und 19 Uhr in Scharpings sanierter Jugendstil- villa abhalten. Genauer gesagt im Arbeitszimmer von „Rudolf“, in dem auch die jüngste Tochter Julia Computer spielt, und im Eßzimmer, wo sich an diesem Dienstag der Stadtentwicklungsausschuß den Kopf darüber zerbricht, wie man den Bau des Kindergartens Allerheiligenberg vorantreiben kann.

Für die Bürgersprechstunde zuständig ist Gaby Bednarek. Sie kontrolliert die Ausweise von Fremden, die den Flur der Scharpings betreten, und sie zeigt Mißtrauen all denen gegenüber, die nicht mit einem Alltagsproblem zu ihr kommen. Gaby Bednarek ist die Schwester von Rudolf Scharping, und es gibt Momente, da wünschte sie sich, daß es niemand wüßte. „Man hat ihm sehr weh getan“, sagt sie, „es reicht jetzt.“

Seit dem Dolchstoß auf dem Mannheimer Parteitag befinden sich die Genossen des SPD- Ortsvereins Lahnstein, die wohl loyalsten bundesweit, in einem schmerzhaften Spagat. Den neuen Bundesparteivorsitzenden aus dem Saarland gilt es – ob sie wollen oder nicht – zu akzeptieren und dem alten aus der Nachbarschaft beizustehen „in diesen schlimmen Tagen“. Kurz vor Mannheim, in seinem Kampf um Selbstbehauptung, hatte Scharping das sozialdemokratische Fußvolk noch gebauchpinselt: „Da unten, wo die Partei lebt, wird man die Intrigen nicht hinnehmen. Das ist auch Teil meiner inneren Sicherheit.“

Die erste Bürgersprechstunde nach Mannheim, am Dienstag dieser Woche, verselbständigt sich zu einer außerordentlichen Sitzung des SPD-Ortsvereins Lahnstein in Sachen Trauer und Therapie. Der geschaßte Spitzengenosse weilt in Bonn, und bang warten die Lahnsteiner Sicherheitsstabilisatoren auf das Ergebnis der Wahl zum Fraktionsvorsitzenden. Die Erlösung kommt kurz nach 17 Uhr: Gaby Bednarek stürmt ins Arbeitszimmer und verkündet die 90 Prozent – die erste gute Nachricht seit fünf Tagen. „Das ist fast optimal“, sagt Bednarek und meint mit „fast“ die 17 Gegenstimmen. Als sei die Nachricht noch nicht in ihr Bewußtsein vorgedrungen, nickt die Lahnsteiner Parteichefin Gabi Laschet-Einig wie abwesend: „Ah, ja, gut.“ Frau Laschet-Einig kämpft für Tempo-30-Zonen und wohnt, unter einer Autobahnbrücke, in Niederlahnstein.

Die Bürgersprechstunde läuft seit einer dreiviertel Stunde – ganz ohne Bürger. Es gibt Dienstage, sagt die Parteichefin, da kommen zehn auf einmal, und solche, an denen „wohl niemand Probleme hat“. Eigentlich kann es dem Pressewart und dem Oberbürgermeisterkandidaten, der Schriftführerin und der Kassiererin, dem Geschäftsführer und den Beisitzern heute nachmittag nur recht sein, daß sie niemandem helfen müssen bei der Formulierung eines Wohnungsantrags. Mit sich selbst sind sie beschäftigt genug.

Die Luft ist zum Schneiden dick in Rudolf Scharpings Arbeitszimmer. Fast jeder raucht „Marlboro“ Kette, Gaby Bednarek bringt alle halbe Stunde frischen schwarzen Kaffee, die Eltern von Jutta Scharping schleichen durchs Haus, als wollten sie nur ja nicht stören. Sie sind da, um der Familie Beistand zu leisten. Rudolf ist in Bonn, Jutta Scharping im Lahnsteiner Aids- Hospiz „Horizont“, wo sie ehrenamtlich die meiste Zeit verbringt – und in Scharpings Zuhause halten die trauernden Genossen Wache. An den Wänden hängen, hinter Glas, selbstgemalte Wasserfarbenbilder der Töchter, langstielige tiefrote Rosen, keine Nelken, stehen verteilt in mehreren Vasen – die floristische Solidaritätsbekundung der SPD-Lahnstein, gekauft noch vorletzten Donnerstag abend, als die irrational gestimmten Genossen in Mannheim den Putsch ganz aus Versehen begangen. Das größte Unglück, hat Scharping einmal gesagt, ist „Ignoranz gegenüber menschlichem Leid“.

Gisela Herz zeigt ihre mit dem Computer gestalteten Geburtstagspostkarten, die sie verdienten Lahnsteiner Genossen zuschickt: Beisitzerin Herz ist zuständig für parteigebundene Gratulationen und Beileidsbekundungen. Geschäftsführer und Scherzkeks Manfred Radermacher lädt alle ein zu seinem Geburtstag, den er nächste Woche in der beheizten Garage der Feuerwehr feiern will, und fragt nach dem „Unterschied zwischen der SPD-Lahnstein und dem Kindergarten Allerheiligenberg?“ Keiner weiß es, Radermacher sagt „Die SPD-Lahnstein ist schon fertig“ – und alle lachen.

Der Lahnsteiner SPD-Oberbürgermeisterkandidat Anton Miesen – der sich hat aufstellen lassen, weil „ich Rudolf gefragt habe und er das gut fand“ – „leidet“ seit Mannheim mit „Rudolf“. Der OB- Anwärter mit Wohnsitz in Koblenz war auf einer Tagung der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin, als Oskar zum Superman gekürt wurde. „Ich konnte nichts mehr machen, ich war den ganzen Tag wie gebügelt.“ Für Miesen ist die Wahl Lafontaines eine „Aus-dem- hohlen-Bauch-heraus-Entscheidung auf dem Boden von Frustrationen“.

Die Lahnsteiner Sozialdemokraten betrauern eine Fehlentscheidung. An Rudolf Scharping sei eigentlich nur zu bemängeln, da sind sie sich sicher, daß er „tatsächlich noch Visionen hat, an die er glaubt“. Und daß so jemand in Bonn nicht gut zu verkaufen ist, wo man nur energisch genug über Leichen gehen muß, um in die „Tagesschau“ zu kommen. „Der Rudolf“, konzediert der stellvertretende Geschäftsführer, „hat eben Visionen bis fast zur völligen Aufgabe der eigenen Person.“ Die Miene von Stephan Bröder nach diesem gewaltigen Satz changiert zwischen Enttäuschung und massivem Mitgefühl.

Es ist nun aber so, daß kaum noch jemand an Scharping glaubt; und so hat die SPD-Lahnstein die undankbare Aufgabe, den Rest der sozialdemokratischen Welt vom wahren „Rudolf“ zu überzeugen – der nicht trottelig ist, sondern nur das Spiel der Medien nicht mitmachen will. So glauben die Lahnsteiner daran, daß „Rudolf“ dieses Manko „zum Verhängnis“ wurde – denn sonst würde ihnen das Leitbild abhanden kommen. Der „große Übervater“ fehle den Lahnsteiner Genossen schon jetzt, meint anderntags der Lokalreporter Rhein-Lahn-Zeitung.

Sechsmal klingelt das Telefon, und Gaby Bednarek notiert Ermunterungen aus Düsseldorf, Bad Ems und Lahnstein für ihren Bruder „Rudolf“. Er solle mal überlegen, regt eine Anruferin an, den Bart abzurasieren, ein Rentner wünscht ihm „Kopf hoch“. Gaby Bednarek verspricht sechsmal, Rudolf Scharping werde die Bekundungen lesen – und legt kleine Notizzettel auf Scharpings Schreibtisch. Die Leute „wissen, daß sie bei Scharpings jederzeit anrufen können“.

Wenn Rudolf Scharping jetzt plötzlich reinkäme, würde er sich die Jacke ausziehen, nach Kaffee und einer Zigarette fragen „und sich geborgen fühlen“, sagt Gabi Laschet-Einig: „Und das erwartet Rudolf auch von uns.“ Ihren Ortsverein, dem Scharping nach wie vor angehört, zeichne aus, daß die Mitglieder „ordentlich miteinander umgehen“. Rudolf Scharping honoriert das mit ständiger Verfügbarkeit: „Wenn es brennt, genügt ein Fax, und er hilft“, diese Erfahrung hat Laschet-Einig schon zweimal gemacht. Der nunmehr stellvertretende SPD-Vorsitzende sei „einer von uns, wir machen keinen Kult um ihn“. Ihn unterscheide von den Ortsvereins- Genossen höchstens „der Anzug, die teuren Socken, der gute Haarschnitt“.

Automatisch gehen um 18 Uhr die Rollos im Erdgeschoß der Villa runter, und langsam brechen die Genossen auf, zu Hause gibt es Abendbrot. Für einen Moment stehen sie noch im Flur, ziehen die Mäntel an, können sich nicht recht trennen. Die meisten treffen sich später noch, um die Fraktionssitzung vorzubereiten, vier oder fünf bleiben bei Scharpings und gehen erst gegen 20 Uhr, als Jutta Scharping aus dem Aids-Hospiz kommt und ihren Mantel an die Garderobe hängt.

Natürlich kommt die Rede immer wieder auf den Parteitag, auf die Genossen an der Spitze, die Stimmung unter den Delegierten. Ein Teil des Schocks, sagt Parteichefin Laschet-Einig, sei auch, daß „wir es nicht für möglich gehalten haben, daß in der SPD Leute abgemeiert werden können, wie es die CDU mit Geißler und Biedenkopf gemacht hat“. Zusammen mit vier anderen Genossen war sie am Donnerstag in aller Frühe nach Mannheim gefahren, weil Mittwoch abend selbst nach Lahnstein Gerüchte durchdrangen, Lafontaine werde kandidieren. Kurz vor der Abstimmung haben die fünf ihr Ortsvereinsmitglied Scharping noch sprechen können. „Rudolf hat sich total gefreut, daß wir gekommen sind.“ Kurz nach der Abstimmung erlitt die ungeübte Nichtraucherin Laschet-Einig einen Rückfall: „Ich mußte erst mal raus, eine rauchen.“ Die Minuten nach Lafontaines Inthronisierung durchlebten sie und der stellvertretende Geschäftsführer Bröder wie in dichtem Nebel. Sie spricht leise: „Das müssen wir erst noch verarbeiten. Es tut noch weh“, sagt sie, und es werde noch eine Weile dauern, „bis der Schmerz nachläßt“.

Besonders hilfreich findet sie es nicht, als Pressewart Achim Fingerhut zu bedenken gibt, für ihn habe Mannheim „auch etwas Befreiendes. Zuletzt mußte man sich doch schämen, wenn man sich als SPD-Mitglied zu erkennen gab.“

„Du denkst so, ich nicht“, sagt Laschet-Einig, als hätte sie es mit einem Spion zu tun.

Daß Rudolf Scharping „das alles“ ausgehalten hat, zeigt vielmehr, findet Laschet-Einig, daß er das Zeug habe, Bundeskanzler „zu sein“.

Seine Schwester möchte mit ihm nicht tauschen. Und außerdem „muß ich jetzt erst mal die Beziehung zu meinem Bruder neu definieren“ – denn „so“ habe sie ihn noch nie erlebt wie auf dem Parteitag: „Das weiß kein Mensch, wo Rudolf mit seinen Gefühlen war, als das Ergebnis verkündet wurde. Das weiß nur er.“