Stechen mit kahlem Kopf

Der Angelsachse Michael Whitaker gewann das Weltcup-Turnier der Springreiter in der Deutschlandhalle vor dem Niedersachsen Franke Sloothaak  ■ Von Matti Lieske

Berlin (taz) – Würde eine Reitsportveranstaltung wie das Weltcup-Springen nicht in Berlin, sondern in Wimbledon ausgetragen, dann müßten alle Teilnehmer komische, von englischen Bobbies abgeschaute Hüte und lächerliche rote Jacken tragen, so als ritten sie gleich zur Fuchsjagd aus. Da es aber nicht Wimbledon ist, genießen die Reiter eine etwas größere Freiheit in der Kleiderordnung. Die meisten tragen dennoch ihre roten Joppen, andere, wie Franke Sloothaak, bestechen jedoch geradezu agassi-artig mit dezent blauen Farbtupfern am Kragen ihres dunklen Jacketts oder grüngefütterten Rockschößen, die lustig im Reitwind flattern. Der ganzen Veranstaltung sitzen nicht etwa umpires oder gar lausige referees vor, sondern leibhaftige „Richter“, die von einem „Richterturm“ aus richten. Wäre es Wimbledon, trügen sie Perücken.

Man sieht, das Springreiten ist ein sehr traditioneller Sport, was dadurch unterstrichen wird, daß als Hallensprecher Hans-Heinrich Isenbart fungiert, der Urahn aller pferdeliebenden TV-Reporter. Immerhin sind die Veranstalter bemüht, durch allerlei Variationen, wie Punktereiten oder „Alles oder Nichts“-Konkurrenzen, bei denen der Sieger das gesamte Preisgeld einsackt und Reiterinnen und Reiter die Möglichkeit haben, ihnen genehme Hindernisse auch für alle anderen zu erhöhen, mehr Schwung in die Sache zu bringen. Doch wenn Isabell Werth zur Piaffe bittet oder Ludger Beerbaum den Oxer traktiert, weht nach wie vor der Geist von Hofreitschule, Hans-Günther Winkler und Prinz Philip durch die Halle.

Früher reichte das, heute muß mehr geboten werden. Erkannt hat das hierzulande vor allem der Pferdehöker Paul Schockemöhle. Als dem Reiten in den 80er Jahren ein wenig die Luft auszugehen schien und die Zuschauerzahlen, auch beim CHI in der Berliner Deutschlandhalle, stark zu wünschen übrigließen, tat er sich mit Ion Tiriac zusammen und begann das Ganze nach Vorbild des Tennis zu organisieren. Wo das Publikum früher in engen Sitzreihen klemmte und lange Umbaupausen erdulden mußte, ohne daß andere Zerstreuungen als die Lektüre des Programmheftes geboten wurden, klirren heute in komfortablen Logen die Champagnergläser, und zwischen den Veranstaltungen wartet im VIP-Raum ein opulentes Büffet. Den weniger privilegierten Erdenbürgern, die Eintritt zahlen müssen und von den Segnungen des Sponsorentums ausgeschlossen sind, geht es zwar längst nicht so glänzend, aber auch sie profitieren vom zügigen Ablauf und einem verbesserten Service. Nur die Berliner Verkehrsbetriebe versagen wie üblich, es wird empfohlen, mit dem eigenen Pferd anzureisen.

Schockemöhles Beispiel machte Schule, durch üppigen Sponsorenzulauf und lukrative Fernsehverträge hat sich der Weltcup der Springreiter – bei seiner Einrichtung vor 18 Jahren mit großer Skepsis betrachtet – zu einer äußerst erfolgreichen und gewinnträchtigen Institution entwickelt. Das Publikumsinteresse ist groß, und an Preisgeldern gibt es insgesamt 10,9 Millionen Mark zu gewinnen, mehr als dreimal soviel wie beim alpinen Ski-Weltcup. Dazu kommen 20 Nobelkarossen vom schwedischen Hauptsponsor. Ausgetragen wird der Wettbewerb weltweit in zehn Ligen, er gipfelt in einem Finale, das diese Saison im April 1996 in Genf stattfindet. Anders als etwa beim Weltcup-Finale in der Leichtathletik nehmen die qualifizierten Reiter ihre zuvor erhüpften Punkte jedoch nicht mit in die Endausscheidung. Praktisch für das Genfer Finale qualifiziert ist Franke Sloothaak, der in Berlin Zweiter wurde und die Führung in der Westeuropazone übernahm. Es siegte der 35jährige Michael Whitaker, obwohl es für sein 23 Jahre jüngeres Pferd „Midnight Madness“ eigentlich noch ein wenig früh war.

Im ersten Umlauf passierte zunächst nicht viel. Das Springtier mit dem schönen Namen Pernod erreichte zum Leidwesen des Publikums genausowenig das Stechen wie ein schimmeliges Monstrum namens Calvaro, das über das Hinterteil eines Elefanten verfügte, selbiges aber nicht recht hochbekam. Pferd für Pferd kassierte brav seine Fehlerpunkte; bis am Ende die Elite antrat, blieben nur vier Reiter makellos. Dann schien es plötzlich so, als seien die Balken an den Hindernissen festgeschnürt. Sechs Nullfehlerritte in Folge hoben die Stimmung gewaltig, den größten Applaus erhielt der Österreicher Hugo Simon, aus schwer durchschaubaren Gründen eine Art Publikumsliebling. Breit und schwer wie ein berittener Ochsenfrosch hockte er auf seinem notwendigerweise stämmigen Tier mit dem zierlichen Namen Apricot D und war erst aus dem Rennen, als er im Stechen ein Hindernis förmlich pulverisierte.

Als Meister der Maßarbeit erwiesen sich Michael Whitaker und sein behufter Untersatz. Nahezu jedes der 13 Hindernisse wurde kräftig berührt, doch sämtliche Latten und Balken blieben artig liegen. Im Stechen legte der Engländer dann einen rasanten Ritt hin, bei dem er sich – gewagt, gewagt – sogar seiner Kopfbedeckung entledigte und ebenso bar- wie kahlhäuptig ins Ziel stürmte. Ein wenig zittern mußte er noch, als direkt nach ihm John Whitaker in die Arena ritt. Der war noch ein bißchen schneller, rammelte aber zur Freude des kleinen Brüderchens ein Hindernis um.

Blieb nur noch die bange Frage, ob die gestrengen Richter auf ihrem Richterturm die hutmäßige Unbotmäßigkeit durchgehen lassen würden. Dies taten sie anstandslos, und Michael Whitaker hatte gewonnen. In Wimbledon wäre so etwas nicht passiert.