Respekt vor BVerfG zu lange übertrieben

■ betr.: „Ein verfassungswidriges Verfassungsrecht?“, taz vom 21. 11. 95

„Verfassungswidriges Verfassungsrecht?“ Eine solche Fragestellung als fünfspaltige Überschrift in der taz hätte man sich schon längst mal gewünscht – im Zusammenhang mit dem Atomgesetz und der einschlägigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes. Daß die deutschen Atomideologen aus Politik, Wissenschaft und Wirtschaft in den Jahren ihres Auf- und Ausbaues so schalten und walten konnten, war doch nur möglich, weil mit Hilfe von einigen Grundsatzentscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes der Grundrechtsschutz von Leben und Gesundheit, von Hab und Gut, ziemlich extensiv und ganz zum Wohle der Atomlobbyisten ausgelegt worden ist. Außerdem wurde mit Hilfe von Karlsruhe das Weisungsrecht des Bundes gegenüber den Ländern zu einen handlichen Knüppel, den Bonn jederzeit schwingen kann, ohne den Ländern Rechenschaft ablegen zu müssen.

Die Anti-Atombewegung hat ihren Respekt vor der Dritten Gewalt, insbesondere vor höchstrichterlichen Entscheidungen, wohl viel zu lange übertrieben. Beim Soldaten/Mörder-Urteil, beim Sitzblockaden-Urteil und beim Kruzifix-Urteil des Bundesverfassungsgerichtes haben es uns hohe und höchste Politiker mit Amt und Würden in anderen Verfassungsorganen wie Exekutive und Legislative von Bund und einigen Ländern vorexerziert, was Sache ist: mit Richter-, Urteils- und Gerichtsschelte auch an der höchsten Instanz.

Es ist höchste Zeit, einige Entscheidungen zum Atomrecht wieder zur Sprache zu bringen, die vom Bundesverfassungsgericht in Sachen Grundrechtsschutz von Leben und Gesundheit sowie extensive Weisungsbefugnis der Bundesregierung ergangen sind. Urteile, die nicht mehr in die Zeit passen. Den Richtern kann zugute gehalten werden, daß die Urteile vor den bisher größten Reaktorkatastrophen (1979 der US-High- Tech-Reaktor Harrisburg und 1986 der vorher so hochgelobte „Schrott“-Reaktor von Tschernobyl) oder zumindest vor Bekanntwerden der tatsächlichen Folgeerscheinungen ergangen sind. Die Atomideologen in Politik, Wissenschaft und Wirtschaft nutzen das ungeniert aus. Wohl wissend, daß sie derart tolerante Gerichtsentscheide nach Harrisburg und Tschernobyl nicht mehr hätten erwarten können. [...] Hans Grossmann,

Maintal/Hanau