Kein Kino der guten Absichten

Der Neugier des Entdeckers immer treu geblieben: Zum Tod des französischen Regisseurs Louis Malle  ■ Von Lars Penning

Meine früheste Erinnerung an Louis Malle geht auf ein Buch zurück, das ich als Junge geschenkt bekam: „Das lebende Meer“ von Jacques Yves Cousteau, dem berühmten französischen Meeresforscher. Ein Foto zeigt seinen damaligen Kameramann und Co-Regisseur Malle, wie er angestrengt durch ein Unterwasserbullauge des Forschungsschiffes „Calypso“ schaut: ein junges, ernstes Gesicht, mit gerunzelter Stirn und einem Blick, der die unbekannten Weiten der Weltmeere zu durchdringen scheint.

Dem Film „Le Monde du Silence“, den Cousteau und Malle in den Jahren 1954/55 zusammen gedreht haben, hat die Zeit – und mit ihr die Perfektionierung der Unterwasseraufnahmen – ein wenig das Spektakuläre genommen, nicht jedoch die Freude an der Entdeckung einer neuen und andersartigen Welt: Der Blick eines Forschers bestätigt sich.

Es ist jedoch keine kühl sezierende Sicht der Dinge, sondern die Neugier eines Entdeckers, der am Schicksal seiner Forschungsobjekte Anteil nimmt. Wie bei den Korallen mit ihren bizarr geformten Oberflächen und den leuchtenden, schillernden Unterseiten scheint sich für Malle in all seinen Filmen zu bestätigen, daß jede Sache zwei Seiten hat. Trotz der abscheulichen Charakterzüge, mit denen einige seiner Figuren in späteren Filmen ausgestattet sind – wie zum Beispiel Lucien Lacombe, der zum Kollaborateur der Nazis wird („Lacombe Lucien“, 1974), oder die rassistischen amerikanischen Fischer in „Alamo Bay“ (1984), die sich gegen die vietnamesischen Immigranten wehren –, werden sie von Malle nicht denunziert, sondern mit Verständnis betrachtet, wenngleich nie entschuldigt. Diese Sichtweise ließ ihn stets der, wie François Truffaut es formulierte, „schlimmsten Falle“ der Filmindustrie entgehen, dem „Kino der guten Absichten“.

Louis Malle ist dem Blick des Forschers treu geblieben – und sein Motto, kein Thema zweimal zu behandeln, ersparte ihm auch meist eine Etikettierung seitens der Kritiker und des Publikums. Auch der Führungsrolle im französischen Film, die manche Journalisten vor allem nach Truffauts Tod für ihn einforderten, wußte er sich zu entziehen und drehte weiter in den USA, wo er in Filmen wie „Atlantic City, U.S.A.“ (1980) oder „God's Country“ (1979/85) den Blick eines Europäers auf die Eigenheiten der Amerikaner warf.

Nur die Schublade mit der Aufschrift „Nouvelle Vague“ hat Malle nie ganz vermeiden können, da der Beginn seiner Karriere als Spielfilmregisseur am Ende der fünfziger Jahre mit den Anfängen jener „Bewegung“ zusammenfiel, der sich Malle nach eigener Aussage sehr nahe fühlte, von der er sich jedoch auch mit dem Hinweis auf seine Ausbildung an der Filmhochschule IDHEC und die Lehrjahre bei Cousteau abgegrenzt hat. „Sie waren Journalisten und Schriftsteller. Ich war Techniker“, sagte er in einem Interview über die Kollegen seiner Generation.

Ein Revolutionär der Filmsprache wie Godard ist er denn auch nie gewesen; Aufsehen erregte damals mehr sein Umgang mit Themen wie Jugendkriminalität und Sexualität. Nur schwer läßt sich heute die Aufregung über Malles zweiten Spielfilm „Les Amants“ („Die Liebenden“, 1958) nachvollziehen, die Geschichte einer Ehefrau und Mutter, die ihren Gatten, den Geliebten und das Kind sitzenläßt, um mit einem Studenten davonzugehen – seinerzeit kürzte die deutsche Zensur den Film um einige Minuten und schnitt die Szenen, die Jeanne Moreau mit ihrer Filmtochter zeigen, heraus. Das Motto „Genuß ohne Reue“ durfte in einer Ära, in der die deutschen Fassungen ausländischer Filme oft aussahen, als ob Konrad Adenauer und der Papst selbst die Schere geführt hätten, keinesfalls für Mütter gelten.

Es ist Malles Verdienst, den filmischen Umgang mit Sexualität sowohl von verschämten Anspielungen wie von Zweideutigkeiten befreit zu haben: Das gilt für die Liebesakte in „Les Amants“ wie für den gänzlich unspektakulären Inzest in „Le Souffle au C÷ur“ („Herzflimmern“, 1971), die Versteigerung der Jungfräulichkeit einer Zwölfjährigen in „Pretty Baby“ (1977) und das tragikomische Delirium, das die spießbürgerlichen Protagonisten in „Milou en Mai“ („Eine Komödie im Mai“, 1989) erfaßt, die sich im Mai 1968 von der „Revolution“ bedroht sehen und wenigstens die „freie Liebe“ noch einmal selbst ausprobieren möchten.

Seine Schauspieler setzte er stets geschickt ein: So reflektierte er mit Brigitte Bardot in „Vie Privée“ („Privatleben“, 1961) ihren Aufstieg zum Massenidol und besetzte Jean-Paul Belmondo in „Le Voleur“ („Der Dieb von Paris“, 1966) gegen dessen Image. Vor allem war Malle jedoch der erste Regisseur, der uns Jeanne Moreau in „L'Ascenseur pour l'Echafaud“ („Fahrstuhl zum Schafott“, 1957) gezeigt hat, wie wir sie heute kennen und lieben: mit den Abgründen, die sich in ihrem Gesicht auftun können, und ihrem unnachahmlichen Gang, mit dem sie durch das nächtliche Paris schreitet.

Vergangenen Donnerstag ist Louis Malle dreiundsechzigjährig in Beverly Hills an einem Lymphdrüsenleiden gestorben. Ohne ihn gibt es im Lande des Kinos einen großen Entdecker weniger.