Ein Vergleich ist ein Vergleich ist ein Vergleich

Darf man die Politik der Serben mit der Politik der Nazis vergleichen? Man muß, um festzustellen, was gleich ist und was verschieden ist  ■ Von Paul Parin

Geschichtliche Ereignisse wiederholen sich nicht. Es wird davor gewarnt, die Entfesselung der Kriege im heute zerfallenen Jugoslawien mit den Kriegen zu vergleichen, die vom Faschismus und vom Nationalsozialismus entfacht worden sind. Doch gerade dies will ich versuchen: Ich vergleiche Aspekte des politischen Geschehens mit dem, was wir vom Reich Hitlers und vom Regime Mussolinis erfahren haben – selbstverständlich ohne gleichzusetzen.

Das haben auch andere getan. Marek Edelmann (der überlebende Kommandant des Aufstands im Warschauer Ghetto) hat gesagt: „Europa hat seit dem Holocaust und dem Krieg nichts gelernt. Heute weiß man zwar, was in Jugoslawien passiert. Aber wenn es darum geht, das Töten zu stoppen, geschieht nichts. Was dort geschieht, ist ein posthumer Sieg für Hitler.“

Vom „mündigen Bürger“ wird erwartet, daß er politisches Geschehen versteht, beurteilt und dazu Stellung nimmt. Er vergleicht zwangsläufig, ob er sich dessen bewußt ist oder nicht. Er weiß, daß Historiker ein anderes Bild der Geschichte haben als er, daß aber auch sie ihre Beurteilung nie unabhängig von Ort und Zeit und der Kultur, der sie angehören, verfassen. Reine Abstraktionen gibt es vielleicht in der Mathematik. Auch ein berichtigtes Geschichtsbild der Historiker ist nicht objektiv; darauf weisen sie selber hin, wenn sie es verfassen. Wir sind darauf angewiesen, Vergleiche anzustellen, wenn wir verstehen wollen, wie sich das vorgelegte neue Geschichtsbild von ihrem weniger „richtigen“ unterscheidet.

Der Ankündigung der Vernichtung der Juden in Hitlers Buch „Mein Kampf“ entspricht das Memorandum von Mitgliedern der Serbischen Akademie (Sanu) im Jahr 1986. Die wichtigsten Thesen sind, daß das serbische Volk von seinen Nachbarn tödlich bedroht werde, deshalb seinen Staat ausdehnen müsse, den es nicht mit anderen Völkern teilen könne. Die herrschende Partei, die sich national-kommunistisch, bald jedoch national-sozialistisch nannte, hat aus dieser Auffassung in zahlreichen Reden ihr politisches Programm abgeleitet.

Hitler sah die arische Rasse von den Juden biologisch bedroht, das deutsche Volk von außen vom bolschewistisch-plutokratischen Weltjudentum. Slobodan Milošević machte „die Albaner“, „die Kroaten“, später „die Muslime“ als Feinde der heiligen serbischen Nation aus. Für Franjo Tudjman waren „die Serben“ Erzfeinde der kroatischen Nation.

Bereits im März 1989 schrieb ich: „(Der serbische Parteigewaltige) hetzt mit chauvinistischen Parolen, läßt Greuelmärchen über sexuelle und kriminelle Untaten der Albaner gegen die Serben verbreiten, behauptet, der albanische Staat wolle das Gebiet [den Kosovo, A.d.R.] aus dem jugoslawischen Staatsverband herausreißen, läßt in Serbien und Montenegro Massen aufmarschieren, peitscht Haß auf, organisiert einen polizeilichen und militärischen Unterdrückungsfeldzug, beruft sich auf den uralten Anspruch des großserbischen Reiches, die Provinz, die Serbien vor sechshundert Jahren verloren hat, wieder zu unterwerfen (...) Eine mächtige faschistische Bewegung ist in dem Staatsgebilde entstanden, das vor mehr als vierzig Jahren aus dem antifaschistischen Kampf hervorging.“

Die Ankündigung der Absicht, Krieg zu führen, Gebiete zu erobern, andere Völker zu vertreiben, wurde außerhalb Jugoslawiens nicht zur Kenntnis genommen, obwohl bereits das Vorgehen des serbischen Regimes gegen die Albaner in Kosovo keinen Zweifel mehr gestattet hätte.

Vielleicht haben gewisse Unterschiede der Verfassung der Republiken in Ex-Jugoslawien zu den Regimen des Nationalsozialismus und Faschismus die Fehleinschätzung im Westen mitbedingt. Mussolini und Hitler (dieser im demokratischen Verfahren zum Kanzler eingesetzt) hatten die Parlamente aufgelöst und andere Parteien verboten, während in Serbien und Kroatien eine „Fassadendemokratie“ erhalten blieb. Auf einen eigenen Gewaltapparat (Falange, Fascio, SA, SS) konnte verzichtet werden. Dieser war, einschließlich der Staatspolizei, bereits vorhanden.

Ich finde, daß die Ideologie der Regime in Belgrad und Zagreb die gleiche ist wie sie damals war und daß dies ausschlaggebend ist. Ich spreche von faschistischer Ideologie und lehne beschönigende Bezeichnungen wie nationalistisch, faschistoid und dergleichen ab. In Serbien und Kroatien war für die Indoktrination mit faschistischem Gedankengut keine eigene Parteiorganisation nötig; diese wurde weitgehend vom staatlichen Fernsehen besorgt. Da faschistische Regime zur Erhaltung und Erweiterung ihrer Macht Kriege und Eroberungen nötig haben, widersprach die Anerkennung der Grenzen der Republiken durchaus den Absichten der Angreifer.

Die Zerstückelung der Tschechoslowakei war Hitler vom Völkerbund zugestanden worden. Nicht anders gingen EU und UNO vor, als die Krajina, Slawonien und weitere Territorien Kroatiens, später ein Großteil von Bosnien-Herzegowina erobert wurden.

Während die Aufteilung Polens zwischen dem Dritten Reich und der Sowjetunion vorerst keine Vertreibung der dort lebenden Bevölkerung vorsah, waren die Kriege der jugoslawischen Armee, die sich für die großserbische Option entschieden hatte, darauf angelegt, „ethnisch reine“ Gebiete zu schaffen.

Bereits im Spätsommer und Herbst 1991 konnten wir im Fernsehen „ethnische Säuberungen“ beobachten: Ein Dorf oder eine Stadt wird von der Artillerie zerstört, darauf stürmen sonderbar uniformierte „paramilitärische“ Truppen vor; dann erscheint ein höherer Offizier in der Unifom der Volksarmee, mit neuen Abzeichen an Stelle des Roten Sterns auf dem Bildschirm. Er erklärt, daß Serben hier angesiedelt werden. Somit entsprechen die ethnischen Säuberungen (ein Sprachgebrauch, der im Westen erst später übernommen wurde) dem Vorgehen der Nationalsozialisten gegen die Juden. In einer ersten Phase sollten diese mittels Diskriminierung, Pogromen und Terror vertrieben werden. In einer zweiten Phase wurden die im erweiterten Reichsgebiet verbliebenen Juden polizeilich-bürokratisch erfaßt, dann deportiert und systematisch vernichtet. Die Taktik der Eroberer war jetzt insofern eine andere, als die Vertreibung allein durch Terror und unerhörte Grausamkeit bewirkt wurde, während die Zerstörung religiöser und anderer kultureller Bauten viel umfassender geschah als seinerzeit die Zerstörung der Synagogen.

Diese „einzeitige“ Vertreibungstaktik ist weniger gründlich, immer bleibt ein Rest noch nicht vertriebener Zivilbevölkerung zurück. Durch die jahrelange Fortsetzung der Vertreibungen von Seiten der Truppen der „bosnischen Serben“, die von der Volksarmee abgespaltet und mit Nachschub versorgt worden war, hat sich in allen Gebieten, nicht nur in dem am meisten heimgesuchten Bosnien-Herzegowina, die Überzeugung etabliert, daß nach jeder Eroberung Greueltaten der Sieger an der Bevölkerung zu erwarten sind. Daher ist es nicht verwunderlich, daß die siegreich vordringende kroatische Armee Flüchtlingsströme der serbischen Bevölkerung auslöst. Auf Seiten der bosnisch-serbischen und der kroatischen Armee werden Untaten von „paramilitärischen“ Einheiten begangen; doch ist kein Fall bekannt geworden, daß eine der regulären Armeen solche verhindert hätte. So wie die Untaten der SS und der Gestapo von der Wehrmacht nicht verhindert und oft unterstützt wurden, sind Terrorakte nicht allein von paramilitärischen Truppen verübt worden.

Bosnische Regierungstruppen haben erst seit kurzem Gebiete erobert und besetzt. Auch sie haben Vertreibungen ausgelöst. Längst hat sich eine Automatik eingestellt. Die Bevölkerung flieht vor jedem Eroberer und läßt nur einzelne, meist Alte und Greise zurück.

Die Gründe für die Nichteinmischung sind komplex und müßten gesondert diskutiert werden. Sogar der massive Einsatz der Natoflugwaffe im September 1995 gilt – so wird betont – ausschließlich dem Schutz der UNO-Truppe, der internationalen Beobachter und Helfer, und dürfte von keiner der Kriegsparteien zur Erzielung militärischer Erfolge genützt werden.

Ein historischer Vergleich drängt sich auf. Die Spanische Republik verteidigte sich mit Hilfe der Internationalen Brigaden, die aus aller Welt herbeigekommen waren, dreieinhalb Jahre lang gegen die aufständische Armee des Generals Franco, der von Hitlers Legion Condor und Einheiten Mussolinis unterstützt wurde. Auf Drängen Englands und Frankreichs beschloß der Völkerbund „Nichteinmischung“; die Republik erhielt aus dem Westen keine Waffen mehr. Als sich die Sowjetunion der Politik der Nichteinmischung anschloß und nichts mehr lieferte, war das Schicksal der Republik besiegelt.

Seit dem Beginn der Feindseligkeiten in Jugoslawien mischten sich die westlichen Staaten als Vermittler ein. Sie verurteilten den Angriff auf die Republik Bosnien- Herzegowina und belegten Serbien mit einem Embargo (der Nachschub an Treibstoff und Waffen wurde allerdings nicht wirklich verhindert). Doch schlossen sich die Vermittler sogleich den Plänen zur Aufteilung des von der UNO anerkannten Bosnien-Herzegowina an, was nur das Ende der Republik bedeuten konnte.

Die großzügig gewährte humanitäre Hilfe für die Bevölkerung der belagerten Städte konnte und sollte am Ausgang des Krieges nichts ändern. Die Bewunderung für den unerhörten Einsatz von Helfern und Hilfsgütern täuschte die Öffentlichkeit im Westen über die tatsächlich verfolgte Politik: Eroberungen wurden zu Tatsachen erklärt, die Vertreibung und Vernichtung eines Volkes war nur mehr ein Flüchtlingsproblem.

Wiederholt erklärten die Vermittler (Lord Carrington, Cyrus Vance, Lord Owen und Stoltenberg): Eine Aufhebung des Waffenembargos, das nur gegenüber der bosnischen Regierungsarmee wirksam war, würde den Krieg verlängern. Das konnte nur heißen: Die schwerbewaffneten Angreifer sollen ihr Ziel, die Kapitulation der legitimen Regierung und die Vertreibung der als „Muslime“ bezeichneten Bevölkerung möglichst schnell erreichen.

Die Politik des Westens ist von der Auffassung bestimmt, daß es sich um einen Bürgerkrieg handelt, in den sich außenstehende Mächte nicht einmischen dürfen und neutral sein müssen, und nicht um einen faschistischen Eroberungs- und Vertreibungskrieg. Doch ist der Vergleich mit dem Appeasement, einer seit vier Jahren verfolgten „Politik von München“, nicht von der Hand zu weisen. Die Haltung der Großmächte mutet angesichts des grauenhaften Geschehens als unverständlich und zynisch an.

Im politischen Kalkül macht sich ein neues Paradigma bemerkbar, das nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden ist. Die Planung der Politik kann auf das noch so verheerende Schicksal großer Menschenmassen keine Rücksicht nehmen; sie werden lediglich als statistische Zahlen betrachtet.

So grundverschieden der Holocaust und die atomare Vernichtung von Hiroshima und Nagasaki auch waren, ihre Wirkung auf die unbewußte Matrix politischen Denkens und Handelns ist gleichsinnig. Die Vernichtung großer Menschenmassen wird in der Strategie als mathematische Größe angesehen. Sie unterliegt dem Urteil der Geschichte, darf aber im Krieg nicht unter dem Gesichtspunkt der Humanität beurteilt werden.

Die Sorge um das Leben und die Gesundheit einzelner hat mit politischen Entscheidungen nichts zu tun und darf sie nicht beeinflussen. Auch um ihre Soldaten sind die Großmächte besorgt. Bismarck hatte gesagt, der Balkan sei nicht das Leben eines einzigen preußischen Soldaten wert. In diesem Krieg wurde ein abgeschossener amerikanischer Pilot mit größtem militärischem Einsatz gerettet, von Heckenschützen getötete französische Blauhelmsoldaten wurden als gefallene Helden beweint.