Kruzifix mit „Legendengestalt“

Auch in Nordrhein-Westfalen entbrennt der Streit ums Kreuz. Nicht nur Christen fühlen sich von Formulierungen eines grünen Landtagsabgeordneten verletzt. Selbst die grüne Wählerschaft ist empört  ■ Aus Düsseldorf Walter Jakobs

Generalvikar Werner Thissen aus Münster reagierte prompt. Die vorbereitete Predigt müsse „aus aktuellem Anlaß“ leider ausfallen, verkündete Thissen den „Schwestern und Brüdern“, die im August seiner Livepredigt am Rundfunkgerät lauschten. Statt dessen, so fuhr der Gottesmann fort, halte er „ein anderes Thema für notwendig“: eine schriftliche Anfrage aus dem Düsseldorfer Landtag.

Die stammte von Stefan Bajohr, dem grünen Neuparlamentarier, der von der rot-grünen Landesregierung Anfang August zu wissen begehrte, welche Schlüsse sie aus dem Bundesverfassungsgerichtsurteil zu den bayerischen Kruzifixen in Volksschulen ziehen wolle. Mit dem Urteil, so lobte Bajohr, habe das Gericht der „Gewissens- und Religionsfreiheit sowie dem Gebot der Toleranz unschätzbare Dienste erwiesen“. Und dann folgte eine Formulierung, die einen Sturm der Entrüstung entfachte. Von Kreuzen „mit oder ohne daran befestigter Legendengestalt“, schrieb Bajohr und traf damit vielen Christen mitten ins Herz. Dutzende schickten bittere Protestbriefe. Gläubige Omas, fortschrittliche Pfarrer, junge Grüne und konservative Prediger äußerten sich gleichermaßen empört.

In der Rundfunkpredigt des Generalvikars hörte sich das so an: „So einfach ist das: Wem Jesus nicht in sein persönliches oder politisches Konzept paßt, der stempelt ihn zur Legende und den christlichen Glauben zum Aberglauben.“ Dank der Wissenschaft sei „heute eindeutig, daß Jesus keine Legende ist, sondern historische Person“. Dem widerspricht der promovierte Historiker und frühere Sozialdemokrat Bajohr, der einst dem SPD-Fraktionschef Friedhelm Farthmann als persönlicher Referent diente. Für ihn gibt es „keinen wissenschaftlichen Beweis dafür, daß es Jesus als Person tatsächlich gab“. Wenn schon bekannte protestantische Theologen wie Rudolf Bultmann die Evangelien als „Kultuslegenden“ definierten, dann liegt es für den Atheisten Bajohr nahe, die „Hauptperson dieser Kultuslegenden als ,Legendengestalt‘ zu bezeichnen“.

In Schulen und Gerichtssälen haben Kruzifixe seiner Meinung nach nichts zu suchen. Deshalb müsie Landesregierung „von sich aus tätig werden, um die Kreuze zu entfernen“. Bei Gertrud und Christian Stolze hat dieser Vorstoß „großes Erschrecken“ hervorgerufen. Die den Grünen nahestehenden Christen aus Bielefeld, sie Religionslehrerin, er Pfarrer, schrieben dem Abgeordneten, sie empfänden seine Folgerung „als bedrohlich“. Bei vielen Christen werde sie zur „Entfremdung“ von den Grünen führen. Bajohrs Antwort fiel ausgesprochen kühl aus: „Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie akzeptieren könnten, daß Geschichte, Lehre und Praxis der christlichen Kirchen viele Menschen nicht ansprechen, sondern Anlaß für sie sind, sich von dieser Religion fernzuhalten.“ Doch die Tonlage änderte sich bald. Bei weiteren grün wählenden Protestbriefschreibern bat Bajohr bald darum, seine „persönliche Auffassung“ in dieser Frage „nicht zum Maßstab“ bei der Bewertung der Grünen zu machen.

Während Bajohr seinen Vorstoß mit der Pflicht des Staates zur weltanschaulichen Neutralität begründet, hat Ministerpräsident Johannes Rau in einer nicht öffentlichen Sitzung des Hauptausschusses im Landtag die Position der Landesregierung so beschrieben: „Kreuze oder Kruzifixe in Unterrichtsräumen bleiben hängen, solange niemand die Entfernung wünscht.“ Wenn Eltern oder religionsmündige Schüler protestieren, soll die Schulleitung „zunächst ein Gespräch mit den Betroffenen suchen“. Bleibt der Betreffende danach bei seiner Meinung, sollten Kruzifixe „aus den jeweiligen Unterrichtsräumen entfernt oder der Unterricht in einen Raum ohne ein derartiges religiöses Symbol verlegt werden. Entsprechendes gilt für religiöse Symbole in Gerichtssälen.“

Rau, selbst praktizierender Christ in einer reformierten Kirchengemeinde, plädiert dafür, mögliche Konflikte „pragmatisch zu handhaben“. Schon die Rechtslage spricht für einen solchen Kurs, denn anders als in Bayern werden Kruzifixe in nordrhein-westfälischen Schulen nicht verbindlich vorgeschrieben. Hinzu kommt, daß es in NRW zahlreiche Kirchen und Religionsgemeinschaften gibt, die, so der kundige Rau im Hauptausschuß, „aufgrund ihres christlichen Verständnisses das Kreuz als Symbol in Kirchen und Gemeindehäusern ablehnen“.

Während eine Verständigung über Kruzifixe in öffentlichen Räumen in NRW noch möglich scheint, stößt die Bajohrsche Rede von der „Legendengestalt“ dagegen auf erbitterte Ablehnung. Nahezu täglich gehen dazu Briefe ein. Der letzte kam in dieser Woche von Pfarrer Ulrich Schlabach aus Siegen. Er wirft Bajohr vor, mit seinem Vorstoß der Demokratie einen „schlimmen Bärendienst“ erwiesen zu haben. Weil er der „Legendengestalt“ mehr gehorcht habe als der mächtigen SED, so Schlabach, habe die „Diskriminierung“ ihn in der untergegangenen DDR ständig begleitet. Für Schlabach steht fest: Die Wertorientierung an dieser „Legendengestalt“ „macht Toleranz und Respekt vor Minderheiten erst möglich“.