„Schule ist simulierte Wirklichkeit“

■ Ein Erstsemester über das Abitur 95: Goethes Faust und Vektor- rechnung – um inhaltliche Interessen geht es in der Schule kaum

Jan Köhler (20) gehört zu den rund 315.000 Schülern und Schülerinnen, die in diesem Jahr Abitur gemacht haben. Seit Oktober studiert er in Bremen Jura.

taz: Wie sieht das Abi 95 aus?

Jan Köhler: Klassisch. In meinem Deutsch-Leistungskurs ging es um Goethes Faust, um das Streben nach absoluter Wahrheit. Mein Deutschlehrer war überhaupt sehr von Klassik angetan. Moderne Literatur kam in der ganzen Oberstufe kaum vor. In der Mathe-Prüfung mußte ich fünf Stunden lang so ziemlich alles zu Papier bringen, was wir in den letzten drei Jahren gelernt hatten: Vektorrechnungen, Kurvendiskussionen. Rechnungen, die mir in der Realität nie mehr begegnen werden. Zum Beispiel die Berechnung einer Pyramide im fünfdimensionalen Raum.

Wurde mit Noten jongliert, um den Abi-Schnitt zu verbessern?

Klar, man wär' doch blöd, wenn man das nicht machen würde. Wer ein Numerus-clausus-Fach studieren will, muß spätestens zwei Jahre vor dem Abi mit dem Rechnen beginnen. Um inhaltliche Interesse geht's da kaum noch. Ich hab' in der 13. Klasse noch einen Crashkurs in Informatik gewählt, um Punkte zu machen.

Hat Schule etwas mit realem Leben zu tun?

Überhaupt nicht. Schule ist simulierte Wirklichkeit. Kein Projekt hatte in sich Sinn. Unser Mathelehrer meinte mal, er wisse selbst, daß die meisten von uns das, was wir bei ihm lernten, nie wieder bräuchten. Ihm sei wichtig, daß wir die Denkstrukturen verstehen.

In der Schule sollte es auch um soziale Kompetenzen gehen, um Teamgeist zum Beispiel.

Das war nebensächlich. Wir haben zwar Gruppenarbeit gemacht, wenn die Lehrer dazu gerade Lust hatten. Aber hinterher ist dann nur über das Produkt geredet worden. Der Prozeß der Gruppenarbeit wurde nie reflektiert.

Hat die Schule dir berufliche Orientierung geboten?

Nee, ich hab' in der neunten Klasse mal ein Betriebspraktikum gemacht. Und später gab's die Möglichkeit zur Berufsberatung. Das war's.

Warum studierst du jetzt Jura?

Inhaltlich hätte mich Soziologie stärker gereizt. Aber Jura interessiert mich auch. Vor allem sind da die Berufsaussichten viel besser. Interview: Karin Flothmann