Kotze als gesellschaftlicher Konsens

Rückwärts gewandter Revoluzzer: Johann Kresnik inszeniert zu Weihnachten „Hänsel und Gretel“  ■ Von Katja Nicodemus

Hitler als Polyhymnia. Wenn ihn die tanzende Muse mal nicht küssen will, hört Johann Kresnik Hitlerreden. „Bei dem“, so der Choreograph, „fällt mir immer was ein.“ Wie anders wären seine Aufführungen wohl, hätte er statt dessen, sagen wir mal, eine Rede von Rita Süssmuth parat. Doch der kernige Kärntner liebt entgegengesetzte Pole. Ende der Sechziger mag das noch angemessen gewesen sein, als der Bub aus Bleiburg genug hatte vom neoklassizistischen Marionettentanz à la Béjart und Balanchine.

1968. Polizisten knüppeln demonstrierende Studenten. Kresnik, selbst als Revoluzzer in vorderster Front, wird von der Staatsmacht zum Krüppel geschlagen. So jedenfalls in „Paradies“, seinem tänzerischen Aufstand nach dem Attentat auf Rudi Dutschke. Den Idealen von damals ist Kresnik, wie er in Interviews gern bekräftigt, treu geblieben. Kritik an der Konsumgesellschaft, Verteidigung der Ausgebeuteten, Unterdrückten bestimmten in den Siebzigern die Themen der „Choreographischen Theaterstücke“ in Bremen.

Mitte der Achtziger, inzwischen in Heidelberg, beginnt er eine Serie biographischer Aufführungen. Seine Frauen Silvia Plath, Ulrike Meinhof, Frida Kahlo und Rosa Luxemburg (Einstand in Berlin) stilisiert er zu geschundenen, gejagten Opfern des politischen, künstlerischen, gesellschaftlichen Umfelds.

Ansonsten medusenhafte Weiblichkeit wie die Hexen in „Macbeth“: Aggressive BDM-Megären in schwarzen Strapsen. Heilige oder Nutte, da ist Kresnik ganz katholisch. Stets stirbt die Heldin den Märtyrertod, ist die physische Vernichtung ausgiebig zelebrierter, schmerzensreicher Opfergang mit viel Theaterblut. Bei „Ulrike Meinhof“ wurde das Kiezküchenniveau der politischen Argumentation zum Bumerang.

Nach dem Motto „Unser armes Riekchen“ präpariert der Choreograph das Schicksal der Meinhof zur passiven Passionsgeschichte. Nicht aus eigenem Entschluß greift sie zur Waffe, sondern verwundert, erschrocken, bekommt sie die Pistole in die Hand gedrückt. Lichtjahre ist Kresniks Meinhof- Madonna von der scharfsinnigen Radikalität der politischen Journalistin entfernt, deren Biographie doch angeblich Thema ist. Oder? „Es geht mir nicht um das Feine, um so ein Ziselieren an den Figuren, es geht mir immer um den großen Bogen, darum, die Strukturen aufzuzeigen, in denen die Individuen leben, wogegen sie sich wehren oder nicht wehren können.“

Naivität des von 68er-Winden angewehten Künstlers, der sich nie die Mühe machte, herauszufinden, was das Wort Struktur bedeutet? Denn von der blitzartigen Bilderattacke bis zum kitschigsten Klischee zeigt Kresnik alles mögliche, nur keine Strukturen. Schwäche und Stärke seiner Stücke beruhen auf dem genau entgegengesetzten Verfahren: Einfrieren, Verkürzen, Destillieren von komplexen gesellschaftlichen Zusammenhängen zu griffigen Bildern. Im Kresnik-Universum ist Gesellschaft gleich Unterdrückung gleich Nazis. Hitler und Mussolini tanzen schon im 19. Jahrhundert („Nietzsche“), Gestapogestiefelte hängen die RAFlerin an Fleischerhaken, prügeln Frau Luxemburg ins Grab, randalieren in englischen Königspalästen („King Lear“, „Macbeth“) und verderben die deutsche Einheit („Wendewut“). Analyse ist hier phänomenologischer Kurzschluß: Karl Liebknecht wird Wolfgang Grams, und der gehetzte Jude zum rosenverkaufenden Asylanten. Was früher der eine also heute der andere, Asylantenheim gleich KZ, und Kanther gleich wer auch immer?

Aber nein. Kresniks Bilder sind nicht zum weiterdenken da. Sie sind Übersetzung von Herrschaft in die immer gleiche sado-masochistische Naziikonographie. Über die verschiedenartige Gestalt der Macht wird rein gar nichts gesagt, aber immerhin das Hakenkreuzchen draufgeklebt.

Resultat ist, was jemand bewundernd den „Erkenntnisschock bei Kresnik“ nannte: Auf einen Schlag wird jedem klar, daß Schlechtes schlecht und Böses böse war und ist. In solchen Politchoreographien findet sich das linke Gewissen, von der undurchschaubaren, verwirrenden Welt da draußen schon genug verwirrt, wenigstens für einen Tanztheaterabend zurecht. Nur ist der Choreograph da im Irrtum, wenn er meint, dem Publikum mit solchen Stoffen „eins vor die erste Reihe zu kotzen“. Um im Bild zu bleiben: Die Kotze ist Konsens. Konsens zum Beispiel, daß Ernst Jünger vom Krieg schon immer mehr gehalten hat als der durchschnittliche Volksbühnenbesucher. Oder daß Gustav Gründgens zu den Nazis ein zwielichtiges Verhältnis hatte. Das läßt sich illustrieren, mit martialischen Stahlhelmposen oder einem Tänzer, der sich in die Wollfäden der Macht verstrickt.

Schade, daß Kresnik sein Gefühl für groteske Bewegung, irritierende Effekte, abgefahrene Kompositionen von Raum, Tanz und Requisit nur zur Verkündung allgemeinmenschlicher Gemeinplätze nutzen will. Denn am besten sind seine Stücke dann, wenn die Bilder der Bevormundung durch Inhalt und Moral entkommen. Wenn plötzlich Aberwitz und Irrsinn wüten, das Bild die Botschaft sprengt. Wenn die hysterische Revue der kochlöffelschwingenden Kriegswitwen in „Ernst Jünger“ das Stahlgetöse rund um die Titelfigur alt aussehen läßt.

In Kresniks neuer Produktion an der Volksbühne versperrt die gute Absicht den Tänzern endgültig die Bühne. Das Märchen „Hänsel und Gretel“ als Folie für die ewige Unterdrückung des Kindes durch Erwachsene, die auch unterdrückte Kinder waren. Da wird Gitterbettchen um Gitterbettchen über die Bühne gezogen, gehievt. Mal kriechen die Tänzer drunter, mal drauf, mal legen sie sich hinein. Dann Gitterbettchen vertikal. Und wieder horizontal als Friedhof. Beschäftigungstherapie für Tänzer und Zuschauer. Umständliche, sperrige Bewegung, Anecken ohne dramaturgischen Nutzen. Räumerei gegen die Leere.

Weshalb Kresnik die armen Kindlein zurück in den Märchenwald schickt, erschließt sich aus zäh zusammengestellten Bildern vage, steht aber dafür ganz kompakt im Pressetext. „Vor dem Wald, vielleicht gar in der alten Holzfällerhütte dieser beiden unvergessenen Kinder von einst, hausen mittlerweile die vielen vergessenen Kinder von heute. Kann aus diesem zeitübergreifenden Zusammentreffen der Verlassenen und Verlorenen neue Hoffnung entstehen, ein letzter Versuch der Gemeinsamkeit und Hoffnung in einer durch und durch beschissenen Welt?“ Kresnik wäre nicht Kresnik, befände sich die Antwort nur andeutungsweise in der Nähe eines klitzekleinen, blassen Ja. Keine Hoffnung also. Verlassen- und Verlorensein. Immer in der naheliegenden Umsetzung.

Zwei nackte Erwachsenenkinder, die sich aneinanderklammern. Andere, die sich verstecken, zittern. Unterdrückung, die erste: Eltern in Soldatenmänteln überwachen und strafen ängstliche Kinder. Unterdrückung, die zweite: Fütterung der Kleinen, Papa und Mama als Zoowärter. Unterdrückung, die dritte usw. Über Unterdrückung vom Band qua Stimme von Gottvater Drewermann. Und weil heutzutage alle Kinder seelisch verkrüppelt sind, trägt das Ensemble Prothesen.

Zwar fehlen die gewohnten Dichotomien Täter–Opfer, Böse– Gut, was Kresniks Bildersprache allerdings nicht freier, eher breiiger werden läßt. Penetrantes Potpourri, das einiges anreißt, nichts ausführt, immer neue Redundanzen aneinanderreiht. Frei dissoziierendes Pädagogikseminar. Waldorfsalat von gestern. Und wenn er manchmal auch noch redet wie in Fit for Fun: „Wir können mit unserem Körper nicht mehr so umgehen wie früher. Man braucht nur die Fluchtsituation der Jugend anzusehen: Sekten, Rauschgift, Orientierungslosigkeit.“ Warum hört er nicht einfach auf, gegen das Elend der Welt zu choreographieren, nach luxemburgischen Meinhof-Analogien zu suchen („... beide haben das gleiche Schicksal. Die Körper der beiden sind kaputtgegangen.“) und den „Trauerarbeiter des deutschen Theaters“ zu spielen. Wünschenswert wäre statt dessen einmal eine Aufführung ohne Soldatenmäntel, Gestapostiefel, Deutschlandfahnen. Ohne die ermüdende Vergewaltigung der weiblichen Hauptfigur. Ohne die ewige Rassel- und Hämmerszene. Kein Hitler und kein Mussolini. Es müßte gar kein Kampf der Körper in der Geschichte sein. Vielleicht was ganz Bescheidenes. Gar nicht politisch. Auch nicht pädagogisch. Eine kleine choreographische Hommage an den Schweinebraten zum Beispiel, den er angeblich hinkriegt wie kein anderer.

„Hänsel und Gretel“. Ballett von Johann Kresnik. Musik: Livio Tragtenberg; Bühnenbild: Penelope Wehrli. Nächste Aufführungen: 29. 11., 6. 12., Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin