Abenteuerstories der 4. Dimension

Klingt (meistens) gut: Marielouise und Arthur Kroker basteln an technologischer Sprache  ■ Von Martin Pesch

Über den Info-Highway rasen, die rechte Hand im Datenhandschuh, in der linken Nietzsches „Wille zur Macht“ – so glamourös und funky dieser Satz (zumal auf englisch) klingt, so gut umschreibt er auch ein Wunschbild von Marielouise und Arthur Kroker. In diesem Bild sehen sie nicht nur die ideale Lebensweise ihrer ZeitgenossInnen, sondern auch ihre Arbeitsweise als Wissenschaftler, die sich mit dem heutigen Menschen und seiner technologischen Umgebung beschäftigen – von den Gipfeln des abendländischen Geistes bis hinunter in die oft stumpfsinnige News-Group-Realität des Internet.

Welche Bedeutung die Ausbreitung des Internet auf Kommunikation, Kunst und Kommerz hat, damit beschäftigte sich Anfang November das alle zwei Jahre in Hamburg stattfindende Symposium „Interface“. Das Ehepaar Kroker war eingeladen, einen der beiden Abendvorträge zu halten. Daß sich ihre Auftritte von konventionellen Vortragsformen unterscheiden, hatte man schon gehört. Als aber der große Saal des Hamburger Kunstvereins schon nachmittags für Aufbau und Soundcheck gesperrt wurde, erwartete man tatsächlich etwas Besonderes.

Ganz unprätentiös dann aber der Einsteig. Die Krokers traten ins Scheinwerferlicht und lasen Texte aus ihrem neuen Buch „Hacking the Future“, das im Januar 1996 erscheinen soll. Mit eindringlichem Sprachduktus trugen sie Geschichten vor, die meist von Leuten handelten, die zuviel vor dem Computer sitzen und am Ende allen Kontakt zu ihrer Umwelt verlieren. Das wäre okay gewesen, wenn sie aus der einfachen Lesung dann nicht doch noch eine Performance hätten werden lassen: Steve Gibson, ein junger Musiker, der auch schon die Begleit-CD zu Arthur Krokers Buch „Spasm“ eingespielt hat, erhob sich hinter seinen Keyboards und Mixkonsolen, begann mit ambienthaften Soundflächen, seltsam kitschigen Melodiebögen. Als Gibson später sein T-Shirt vom Oberkörper riß, wurde das mit einem Johlen der ZuschauerInnen begrüßt – was allerdings weniger begeistert als höhnisch klang. Denn die ganze Veranstaltung war da schon zu einer Peinlichkeit geworden.

Peinlichkeit, weil hier der Versuch stattfand, Theorie futuristisch als Live-Performance zu inszenieren – ohne daß die formalen Mittel dem standgehalten hätten. Laut Marielouise und Arthur Kroker leben wir in einem „rekombinierten Zustand“: Die Welterklärungsmodelle sind eingestürzt, es gibt keine Einheit, schon gar nicht auf der Ebene des Bewußtseins. Und wo die Schaltzentrale keine mehr ist, da kann auch alles, was sie an Gedanken und Ausdrucksformen generiert, keine Einheit mehr besitzen.

Diesem Zustand sollen die Texte der Krokers entsprechen: Fachdiskurse zu Baudrillard et al. werden mit Abenteuerstories aus der vierten Dimension verschnitten. Ihre Performance macht den Versuch, die Rekombination auf der Textebene mit der der Musik zu, äh, kombinieren. Denn Gibsons Musik besteht hauptsächlich aus gesampleten, also rekombinierten Sounds, die er unangenehmerweise mit „richtig“ gespielter Musik anreichert. Seine Kreationen leiden sehr darunter, daß sie von allen in den letzten Jahren gemachten musikalischen Entwicklungen innerhalb von Techno und elektronischer Musik unberührt geblieben sind.

Egal, ob man sie sieht, hört oder mit ihnen spricht: Stets bleibt der Eindruck, daß den immer wieder vorkommenden Vokabeln und Neologismen wie recombinant body, virtual fascism, crash aesthetics, excremental culture vornehmlich eins eigen ist: sie klingen gut. Der Kroker-Sound ist ihre Lösung der Fragen: Wie finde ich eine der technologischen Entwicklung angemessene Sprache? Und wie erreiche ich damit die Leute, die in diesen Entwicklungen leben?

Marielouise Kroker: „In den letzten 20 Jahren ist, zumindest in Amerika, etwas verschwunden, was vorher in den Schulen selbstverständlich war, nämlich kritisches Denken zu lehren und die Fähigkeit zu bekommen, Kritik zu üben. Darauf muß man reagieren. Und das geht nicht, indem man als Wissenschaftler immer so weiter arbeitet wie bisher. Uns hat zum Beispiel die Situation der Kleinstadt interessiert, aus der Arthur stammt. 2.000 Leute und eine Papiermühle, 1.000 Kilometer nördlich von Toronto, im Busch. Die Fabrik wurde geschlossen, und es entwickelten sich dort schlimme Dinge. Die Hälfte der Leute zog weg, der Rest fing an zu trinken, sie hörten auf, an ihren Häusern zu arbeiten, wurden psychotisch und begannen, sich gegenseitig umzubringen. Darüber hätten wir ein schönes soziologisches Buch schreiben können. Wir schrieben aber nur eine Seite, die Geschichte „Dead Dogs and Daddy Under the Christmas Tree“. Und wir bekamen die Reaktion auf den Text, daß die Leute, die dachten, sie seien dem Untergang geweiht, spürten, daß sie dem Abgrund entgehen können. Und das ist es, was wir mit Texten erreichen wollen.“

Im Gespräch fällt auf, daß Marielouise Kroker immer bestrebt ist, konkrete Beispiele für einen Gedanken zu finden, während Arthur Kroker selten von der abstrakten Ebene herunterkommt. Er scheint ein bestimmtes Repertoire an Formulierungen zu haben, das er variabel einsetzt. So benutzte er bei einer Podiumsdiskussion in Hamburg die gleichen Statements und das gleiche Nietzsche-Zitat, die er mir wenige Stunden zuvor auf das Band gesprochen hatte.

Eine der Krokerschen Grundthesen: Zu dem Widerspruch zwischen Arm und Reich ist ein weiterer, tiefgreifender Widerspruch getreten, der immer mehr an Bedeutung gewinnt: Es gibt Leute, die Zugang zu den neuen Technologien haben, und solche, die ihnen bloß passiv unterworfen sind. Wer in Zukunft nicht on line ist, dessen Chancen sinken rapide.

Arthur Kroker: „Was wir nicht akzeptieren, ist der Wahrheitsanspruch einer Elite, die um ihren Platz in der Gesellschaft nicht zu fürchten braucht. Wir lassen dagegen Positionen zu Wort kommen, die aus dieser Gesellschaft ausgeschlossen sind.“

Marielouise Kroker: „Wenn in unserem Buch „The Last Sex“ Menschen über ihre Geschlechtsumwandlung sprechen oder über sexuelle Erfahrungen, die nicht mehr in der Dualität von Mann und Frau zu fassen sind, dann hat das nichts mit Zynismus zu tun. Was ich als zynisch ansehe, ist die Vereinnahmung dieser Konzepte, die seit einiger Zeit durch die Filmindustrie stattfindet. Das Szenario dieser Filme ist, daß ein als Frau verkleideter Mann der tatsächlichen Frau beibringt, wie gekocht und gespült wird. In diesen Filmen wird mit Transsexualität und den Themen, die wir behandeln, zynisch umgegangen.“

Das in Montreal lebende Ehepaar beschäftigt sich seit einigen Jahren hauptsächlich mit Massenmedien und neuester Computertechnologie. Exzessiver TV-Genuß wie ausgiebiges net surfing gehören zu ihrem Forschungsprogramm. Das alles hat ihnen bisher besonders im angelsächsischen Raum viele AnhängerInnen eingebracht. Auch wenn ihre Thesen – insbesondere die zu den Themen Körper und Identität – nichts essentiell Neues bieten gegenüber den auch hier eingeführten Fassungen à la Judith Butler und Donna Haraway, sind sie doch oft so spektakulär verpackt, daß allein dadurch ein gewisser Mehrwert entsteht. Wie suggestiv dieser Mehrwert ist, zeigen die Anschlußversuche bestimmter Zeitschriften, die in den letzten Monaten Interviews mit ihnen führten: das Cyber-Hippie-Magazin Mondo 2000 aus San Francisco, das britische Zeitgeistblatt i-D und die Wiener Kunstzeitschrift Springer. So unterschiedlich der Anspruch dieser Publikationen und die von ihnen repräsentierten Szenen sind, so offen ist das theoretisch-sprachliche Gefüge, in dem sich die Krokers bewegen: eine oft brillante Analyse der Gegenwart, die verbunden wird mit einem Techno-Slang, der das Ganze dann zu einer Art hippen Wissenschafts-Science-fiction werden läßt.

Manchmal dringt auch politische Realität ein. Unter dem unmittelbaren Eindruck der Abstimmung über die staatliche Souveränität Quebecs spricht Arthur Kroker von faschistischen Tendenzen. „Faschismus“ ist bei ihm durch Ausschließungspraktiken charakterisiert. Der „virtuelle Faschismus“ im Cyberspace (Ausschluß von der technologischen Entwicklung) entspricht dem „Retro-Faschismus“ in der wirklichen Welt (Ausschluß durch Unterscheidung von Sprachen und Ethnien).

Arthur Kroker: „Wir leben in Montreal und sind so inmitten des Problems der Separation Quebecs von Kanada. Die politische Führung der Bewegung ist faschistisch, man kann bei ihnen Diskriminierung der Minderheiten und das Anschwärzen dieser Minderheiten für politische Mißstände beobachten. Sie spielen eine Sprachgruppe gegen die andere aus.“

Marielouise Kroker: „Die jetzige Bewegung unterscheidet sich auch fundamental von der, die vor 15 Jahren das gleiche Ziel verfolgte. Ich komme eigentlich aus den USA, bin während des Vietnamkrieges nach Kanada gezogen und habe dieses Land immer als guten Ort zum Leben betrachtet. Und obwohl ich die Separatisten auch früher nicht unterstützt habe, hatte ich doch Achtung vor ihrem sozialen Anspruch und dem Versuch, die Minderheiten in ihre Bewegung einzubinden. Heute bekommen wir ganz klar gesagt: Ihr werdet nie richtige Quebecer sein, weil ihr keine Franzosen seid.“

Arthur Kroker: „Die Situation dort ist wahrscheinlich gefährlicher, als es scheinen mag. Für mich ist Quebec wirklich ein potentielles Bosnien und Montreal so bedroht wie Sarajevo.“