„Alle Verbände müssen laut aufschreien“

■ Aufgeschreckt durch die Umfrage machen nun die Selbsthilfeverbände mobil. Mit Umfragen und Eingaben bei der EU-Kommission soll das Projekt gestoppt werden

Armin Nentwig ist Vorsitzender des Bundesverbandes „Schädel- Hirn-Patienten in Not“, der KomapatientInnen und ihre Angehörigen unterstützt.

taz: Warum sollen Ärzte nicht sagen, unter welchen Bedingungen sie Wachkomapatienten die Nahrung entziehen würden?

Armin Nentwig: Meine erste Reaktion war: Darf es überhaupt erlaubt sein, daß – bezahlt aus Steuermitteln – bei Medizinern abgefragt wird, ob man bei Patienten im Wachkoma die Ernährung abschalten und die Medikamentengabe einstellen solle? Ich habe dann sofort Gespräche mit der Europäischen Kommission in Brüssel und mit Herrn Professor Honnefelder in Bonn vereinbart. Was ich dort gehört habe, bestärkt mich darin, nun alles zu tun, um die längst laufende Fachdiskussion zum Nahrungsentzug entscheidend zu beeinflussen – und zwar im Sinne der Betroffenen und ihrer Angehörigen.

Was werden Sie konkret tun?

Alle europäischen Selbsthilfeverbände müssen laut aufschreien und sich zur Wehr setzen. Mein Verband wird künftig an allen Konferenzen zu diesem Thema teilnehmen. Außerdem haben wir einen Gegenfragebogen an Betroffene und Angehörige versandt. Die bisher eingegangenen Kommentare zu dem europäischen Projekt sind mehr als deutlich: „Unfaßbar“, „Mord“, „Unrecht“, „Euthanasie“, „Wir haben ein Recht auf Leben.“

Glauben Sie, daß der Protest die verantwortlichen PolitikerInnen erreichen wird?

Unser Verband hat dazu aufgerufen, an die EU-Kommission zu schreiben und mittels Beschwerden und Petitionen gegen das Projekt zu protestieren. Eine Grauzone in der Medizin, wie die Situation des Wachkomas, kann rein wissenschaftlich nicht abgeklärt werden. Ein solch sensibles Thema muß zuerst mit den Betroffenen selbst diskutiert werden.

Was sollte die Politik für die WachkomapatientInnen tun?

Die Gruppe der Schädel-HirnVerletzten ist seit langem die am meisten benachteiligte Patientengruppe. Es fehlen Reha-Einrichtungen, es gibt keine Lehr- und Forschungsstätten für neurologische Rehabilitationsmedizin. Wir brauchen eine flächendeckende und durchgängige Versorgung. Und die Angehörigen müssen stärker mit einbezogen werden. Sie sind neben Therapie, Pflege und Medizin das vierte Standbein für die Komapatienten.

Ihre Forderungen treffen auf PolitikerInnen und BioethikerInnen, die ständig von knappen Ressourcen und Problemen ihrer Zuteilung sprechen ...

Zugegeben: Die Kosten für eine qualifizierte Frührehabilitation von Patienten im Wachkoma sind hoch, bis zu 30.000 DM im Monat. Aber auch die Schwerstbetroffenen haben ein Recht auf Solidarität der Sozialpolitik und der Kostenträger, vor allem der Kassen. Schwierigkeiten bei der Organbeschaffung für Transplantationen dürfen nicht dazu führen, daß man auf Organe von Komapatienten schielt. Probleme dürfen nicht auf dem Rücken dieser Patientengruppe und ihrer Angehörigen ausgetragen werden. Interview: Klaus-Peter Görlitzer