Streit um neues "Supervirus"

■ Aids: Berater der Bundesregierung wiederholt seine Warnung von dem aggressiveren Thailand-Virus. Deutsches Aidszentrum: Berichte sind aufgebauscht

Wie gefährlich ist das „neue“ Aidsvirus vom Typ E, das aus Thailand von Sextouristen auch in die Bundesrepublik eingeschleppt worden ist? Im Deutschen Aidszentrum wurden die Presseberichte vom Wochenende als „aufgebauscht“ bezeichnet. Für die explosionsartige Ausbreitung der Epidemie in Thailand gebe es, so der Sprecher des Zentrums, Uli Marcus, auch ganz andere Gründe als ein angeblich hochinfektiöses „Supervirus“. Dagegen hat der Leiter des Paul-Ehrlich-Instituts in Langen, Professor Reinhard Kurth, gestern in einer breit gestreuten Presseerklärung erneut gewarnt: Epidemiologische Untersuchungen „geben zu der Vermutung Anlaß, daß der Subtyp E bei heterosexuellem Verkehr deutlich ansteckender ist, als der bisher in Deutschland vorherrschende Subtyp B“. In einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin Focus hatte Kurth erklärt, mit der Ruhe in Deutschland könne es bald vorbei sein, falls sich der aggressivere thailändische E-Typ des Virus' auch bei uns ausbreite. Professor Kurth zählt zum Beraterstab der Bundesregierung.

Weltweit sind bisher neun verschiedene Varianten des Aidsvirus HIV isoliert worden, die Typen A bis H und Null. In Westeuropa und den USA war bisher ausschließlich der Typ B aufgetreten. In Afrika fand man die Virusvarianten A, C und D. In Thailand wiederum grassiert überwiegend der Virustyp E.

Ausgangspunkt für die heftige Aufregung um Typ E und die Warnungen des Paul-Ehrlich-Instituts sind verschiedene wissenschaftliche Artikel. In der angesehenen britischen Medizinzeitschrift Lancet etwa hatte ein amerikanisches Forscherteam um den Virologen S. K. Brodine Anfang des Monats von alarmierenden Befunden berichtet. Bei der Übertragung von Frau zu Mann — meist von Prostituierten zu ihren Freiern bei ungeschütztem Sex — sei die Ansteckungsrate in Thailand 50mal größer als in Nordamerika.

Die hohe Ansteckungsquote war bislang vor allem mit den in Thailand stark verbreiteten Geschlechtskrankheiten in Verbindung gebracht worden, die das Ansteckungsrisiko wegen der mikroskopisch kleinen Verletzungen im Intimbereich dramatisch erhöhen. Die amerikanischen Forscher kommen in ihrer Untersuchung dagegen zu dem Schluß, daß die hohe Ansteckungsrate in Thailand auf die „spezifischen Eigenschaften des Subtyps E“ zurückzuführen sei. Aidsforscher Reinhard Kurth ergänzt: Typ E werde vorwiegend über die Schleimhäute übertragen, weil er auch die dendritischen Zellen der Schleimhäute infiziere. Zur Ansteckung mit Subtyp B brauche es dagegen kleinste Blutungen beim Geschlechtsverkehr.

Als weiterer Kronzeuge für die neuen Gefahren gilt der amerikanische Forscher Max Essex. Er stellte bei seinen Experimenten fest, daß der Thai-Virus im Labor sogar 500mal ansteckender sei als die europäische Variante. Das deutsche Aidszentrum wies diese Einschätzung gestern zurück. Die Schlußfolgerungen von Essex „müssen wohl als sehr spekulativ bewertet werden“. Noch sei nicht nachgewiesen, daß dieses Virus tatsächlich gefährlicher ist. Wenn man langjährige Infizierte und deren Partner in Deutschland und Thailand beobachte, zeigten sich in der Ansteckungsrate wenig Unterschiede, sagte Uli Marcus.

Auch der Sprecher der Deutschen Aids-Hilfe, Michael Lenz, blieb zurückhaltend. Die Titelgeschichte von Focus sei „viel zu reißerisch“. Schon lange sei außerdem klar, daß Sextouristen, die nach Thailand fahren, zu einer gefährdeten Gruppe gehören. Wer Safer Sex praktiziere und ein Kondom benutze, sei in jedem Fall auf der sicheren Seite, „egal, ob Virus A, B, C, D oder E.“ Manfred Kriener