: Keiner will auf die Hinterbank
Die Verdopplung der Fraktion führt bei den Bündnisgrünen zu einem verstärkten Gerangel um Sprecherposten. Weil die Fraktionsarbeit neu strukturiert wird, müssen die Altgedienten nun Macht abgeben ■ Von Dorothee Winden
Früher fielen die Entscheidungen im Kopierzimmer. Das war zu Zeiten, als die Alternative Liste im Schöneberger Rathaus gerade mal neun Mandate hatte. Mit den informellen Absprachen zwischen Tür und Angel ist es jetzt vorbei. Selbst wenn die mittlerweile dreißig bündnisgrünen Abgeordneten in den kleinen Kopierraum der Fraktion hineinpassen würden, praktikabel wäre diese Form der Entscheidungsfindung nicht mehr. Die Verdopplung der Fraktion zwingt die Bündnisgrünen dazu, sich von liebgewordenen Gewohnheiten zu verabschieden.
Umstellen müssen sich vor allem die zwölf Abgeordneten, die schon bisher im Parlament saßen. Bislang waren sie als Solotänzer in den Ausschüssen und konnten ihr Fachgebiet weitgehend ungestört beharken. Künftig stehen den Bündnisgrünen in jedem Ausschuß zwei Sitze zu – eine willkommene Verstärkung. Ressorts wie Jugend und Soziales, die in der letzten Legislaturperiode schwach besetzt waren, können jetzt verstärkt werden. Gleich zwei Experten für Soziales hat die Fraktion dazugewonnen: Michael Haberkorn hat Obdachloseninitiativen mit aufgebaut und war in der Senatsverwaltung für Soziales zuletzt für diesen Bereich zuständig. Claudia Hämmerling war zuvor Sozialstadträtin in Weißensee. Mit Alice Ströver zieht eine ausgewiesene Medienexpertin ins Abgeordnetenhaus ein.
Politische Neulinge gibt es in der Fraktion keine. Etliche bringen Erfahrung aus den Bezirksparlamenten mit oder waren Fraktionsmitarbeiter. Theaterregisseur Uwe Dähn war Kulturstadtrat in Mitte, und der Treptower Wirtschaftsstadtrat Vollrad Kuhn bringt detaillierte Kenntnisse über die Lage der Betriebe in Ostberlin mit. Damit dürfte er dem wirtschaftspolitischen Sprecher der PDS heftige Konkurrenz machen.
Doch der große Zuwachs bedeutet auch, daß die alten Hasen Macht abgeben müssen. Von den neuen Parlamentariern will schließlich niemand auf die Hinterbank. Während früher für jeden bündnisgrünen Parlamentarier automatisch ein Titel als Sprecher für ein Ressort abfiel, drängeln sich jetzt die Aspiranten. Zumal die alten Hasen, mit Ausnahme der bisherigen sportpolitischen Sprecherin Judith Demba, keine Anstalten machen, ihr angestammtes Ressort abzutreten.
Bei den Neuankömmlingen habe sich deshalb schon „ein gewisser Unmut“ breitgemacht, sagt Jeannette Martins, mit 28 Jahren die jüngste in der Fraktion. „Es kann passieren, daß sich die Neuen unter sich treffen, um über die Sprecherposten zu reden.“ Auf der Fraktionssitzung am nächsten Dienstag soll über die strittigen Posten abgestimmt werden. Nach Möglichkeit sollen sich die Konkurrenten aber im Vorfeld einigen.
„Noch werden die Ellenbogen nicht ausgefahren“, meint Jeannette Martins. „Aber das kann ja noch kommen.“ Sie selbst hat Ambitionen, jugendpolitische Sprecherin zu werden; noch ist nichts entschieden. Die vier AnwärterInnen versuchen, die Arbeit sinnvoll untereinander aufzuteilen, und kommen zu teilweise unorthodoxen Lösungen. So sollen Jeannette Martins und Barbara Oesterheld reguläre Mitglieder des Ausschusses für Jugend und Familie werden. Elfi Jantzen wird als familienpolitische Sprecherin stellvertretendes Mitglied. Falls die Tagesordnung mal so aussieht, daß alle drei gefragt sind, wird das große Stühlerücken losgehen. Großen Andrang gibt es auch in den Ressorts Stadtplanung, Innenpolitik und Hauptstadtfragen, weniger begehrt sind Arbeitsmarkt- und Frauenpolitik.
Die durch die vergrößerte Fraktion notwendig gewordene Umstrukturierung stößt durchaus auf Widerspruch. Die Zeiten, wo Abgeordnete auf den letzten Drücker parlamentarische Anträge in die Fraktionssitzung hereinreichten, sind vorbei. Anträge, die nicht in den neueingerichteten Arbeitskreisen vordiskutiert worden sind, kommen in der wöchentlichen Fraktionssitzung erst gar nicht auf den Tisch. So sieht es ein Papier der sechsköpfigen Strukturkommission vor.
„Ausnahmen sind natürlich möglich, wir wollen uns schließlich nicht der Möglichkeit berauben, aktuell zu reagieren“, sagt Pressesprecher Matthias Tang. „Die haben Schiß vor Reglementierung“, heißt es hinter vorgehaltener Hand. Die Neuorganisation der Fraktionsarbeit wäre schon länger nötig gewesen. Andere, wie Sibyll Klotz, sehen darin auch Vorteile: „Das neue Verfahren ist demokratischer.“
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