Überall Ruinen!

■ Angelopoulos über das prekäre Verhältnis zwischen glorreicher Vergangenheit und trister Gegenwart

taz: Wollen Sie mit der Suche nach den ersten Filmen der Maniakis-Brüder dem Kino eine Hommage erweisen, oder suchen Sie wie Wim Wenders nach dem unschuldigen Blick?

Theo Angelopoulos: Der Film hat nichts mit der Hundertjahrfeier des Kinos zu tun, aber er ist eine Hommage an die Anfänge des Films. Die Maniakis-Brüder haben die Ereignisse auf dem Balkan zu Beginn dieses Jahrhunderts gefilmt. Diese Epoche war voller Veränderungen: Die Türken hatten sich nach zwei Kriegen auf dem Balkan zurückgezogen, und die Balkanstaaten fanden ein zerbrechliches Gleichgewicht. Die Brüder Maniakis kamen aus einem kleinen griechischen Dorf und gehörten zu einer nomadisierenden Volksgruppe, die über den ganzen Balkan verstreut war. Sie besaßen also keine genau bestimmte Nationalität. An jedem Ort paßten sie sich der jeweiligen Kultur des Landes an. Ihre Adresse gaben sie an mit „Brüder Maniakis, Balkan“. Seltsamerweise waren sie gleichzeitig das Symbol eines polyethnischen Balkan und einer Vereinigung der Balkanländer – zu der es nie kam.

Warum beziehen Sie sich immer wieder auf die Mythologie? Ist Ihnen das heutige Griechenland zu dürftig?

Nein, das ist nicht der Grund. Wenn ich mich jetzt auf die Odyssee beziehe, dann will ich die erste schriftlich festgehaltene Reise des Okzidents wiederfinden. Für meine Generation war die griechische Mythologie sehr lebendig und beeindruckend – so wie die Märchen der Großmutter. Unser Land ist von der Mythologie geprägt. Ich will diese Geschichte neu formulieren, indem ich Vergangenheit und Gegenwart zusammenführe. Die griechische Kultur ist etwas morbid – überall Ruinen! Ich versuche, den Mythos in die Gegenwart zu verlängern – ihn auf ein menschliches Niveau zu bringen und auf diese Art mit der modernen Realität zu versöhnen.

Der Taxifahrer sagt im Film „Griechenland stirbt. Aber wenn es stirbt, dann möglichst schnell.“

Er spiegelt die Verzweiflung einiger Griechen wider. Jedesmal, wenn die Gegenwart im Vergleich zu unserer glorreichen Vergangenheit nicht so gewichtig und blühend ist, verlieren wir das Gleichgewicht. Dieses Gefühl äußert sich manchmal in einer Art Katastrophologie, aber es kann auch eine poetische Dimension gewinnen. Genau das erlebt der Taxifahrer plötzlich.

Welche Bedeutung hat das Reisen in Ihren Filmen?

Es sind keine kosmopolitischen Reisen, sondern Reisen in Griechenland, in der Geschichte. Die Reise hat für mich nichts von einem Road-Movie, denn in meinen Filmen fährt niemand zufällig los, einfach ins Blaue hinein, sondern er sucht ein Ziel. Es sind Reisen der Selbsterkenntnis, beinahe Initiationsreisen. Die Kinder, die in „Landschaft im Nebel“ nach Deutschland aufbrechen, oder der „Bienenzüchter“, der an seine Ursprünge zurückkehrt – jede Reise ist verschieden. Manchmal weiß ich selber nicht, warum ich diese Art von Filmen mache.

Eine Ihrer Figuren fragt: „Wie viele Grenzen muß man überschreiten, um bei sich anzukommen?“

Das ist ein Satz, den ich aus meinem vorletzten Film „Der zögernde Schritt des Storches“ übernommen habe, diesmal allerdings in englisch und nicht in griechisch. Wenn man in „Der Blick des Odysseus“ eine Linie überschreitet, dann sind das immer psychologische, moralische oder politische Grenzen. Geographische Grenzen lassen sich immer unendlich viel leichter überwinden als die Grenzen in uns selbst. „Bei sich ankommen“ bedeutet home oder Heimat, da, wo es eine Harmonie zwischen sich und dem anderen gibt. Diese Ankunft ist ein großartiger Augenblick, aber sie gelingt uns eben nicht immer.

Wollen Sie ein allgemeines Ungleichgewicht zeigen, eine Entwurzelung?

Natürlich kann man nie ,allgemein‘ sein. Ich spreche von Dingen, die ich fühle, und wenn ich dabei ein aktuelles Problem berühre – um so besser. Zum Beispiel habe ich den Balkan und die Nachbarländer Griechenlands erst durch die Arbeit an diesem Film entdeckt. Also war es auch für mich eine Reise der Erkenntnis: Ich bin mit bestimmten Ideen losgefahren und mit ganz anderen angekommen.

Ihre Filme spielen sehr mit der Zeit. Ist das Kino für Sie ein Medium der Erinnerung?

Ja. In meinen Filmen spielt die Zeit eine wichtige Rolle. Oft wird der Raum zur Zeit und die Zeit zum Raum, das heißt, es findet ein ständiges Wechselspiel zwischen ihnen statt. Ich mache ein Kino der Erinnerung, weil ich oft in meiner Kindheit und Jugend und zu den Ereignissen zurückkehre, die mich bewegt haben. Zum Beispiel waren „Die Brüder Karamasow“ von Dostojewski eine der frühen Entdeckungen, die sich mir unauslöschlich eingeprägt haben. Also kehre ich oft zu meinen ersten Dichtern zurück oder zu den politischen und sozialen Ereignissen in Griechenland, die mich beeindruckt haben. Ich glaube nicht, daß es eine Vergangenheit gibt – alles ist gegenwärtig.

Mein Trauma enstand, als mein Vater während des griechischen Bürgerkriegs [im Anschluß an den Zweiten Weltkrieg, Anm. d. Red.] erst verhaftet, zum Tod verurteilt aber doch noch gerettet wurde. An seine Rückkehr werde ich mich immer erinnern, in allen Einzelheiten. Vielleicht ist darum die Rückkehr ein zentrales Thema meiner Filme geworden. „Der Blick des Odysseus“ ist zusammen mit „Die Reise nach Kythera“ (1984) mein autobiographischster Film.

Sind Ihre Filme so melancholisch, weil Sie sich nicht von der Vergangenheit und den Erinnerungen lösen können?

Für mich ist die Melancholie das vorherrschende Gefühl am Ende dieses Jahrhunderts, und meine Filme wollen diesen Aspekt des Wartens zeigen. Ob Epos („Alexander der Große“) oder Intimsphäre („Der Bienenzüchter“) – meine Filme suchen zwischen Vergangenheit und Gegenwart einen roten Faden. Mein Ehrgeiz dabei ist es, einen Film zu machen, der sich an unsere Epoche richtet und ihre Hoffnungen ausdrückt.

Warum sind Sie so vom Wasser fasziniert?

Da fragen Sie besser meinen Psychologen! (lacht). Ich kann diese Faszination nicht erklären. Natürlich ist das Meer das Zentrum der mediterranen Zivilisation. Der Handel, die Kommunikation, die Kriege, die Entdeckungen – alles war mit dem Meer verbunden. Die wirkliche Reise Odysseus' verlief über das ganze Mittelmeer, über Neapel, Gibraltar, Libyen bis hin zum Schwarzen Meer ... Wir Griechen trinken auf das unerschöpfliche Meer: Wir sind von ihm verzaubert.

Warum machen Sie Filme?

Für mich und meine Freunde – und um den Lauf der Zeit zu besänftigen. Es scheint mir der einzige Weg zu sein, um die Idee des Todes zu überwinden.

Zeigen Sie die demontierte Lenin-Statue, weil eine Idee jetzt museumsreif geworden zu sein scheint?

Nein, das ist es nicht. Nach dem Fall des Kommunismus in der Sowjetunion hat man systematisch die Lenin- und Stalin-Denkmäler zertört und an westliche Sammler verkauft. Ich habe in der Zeitung gelesen, daß man den französischen Bildhauer César beauftragt hatte, ein Monument aus steinernen Lenin-Köpfen zu machen. Um genügend Auswahl zu haben, ließ sich César diese Köpfe lastwagenweise aus Osteuropa heranschaffen. In seinem Hof stapelten sich diese Köpfe und trieben ihn von einem Alptraum zum nächsten...

Lenin verkörperte nicht nur den Marxismus-Leninismus, sondern vor allem die Idee der Revolution. Jedenfalls markiert dieses Monument, das auf der Donau treibt, das Ende einer Epoche, eines Traumes, einer Utopie von Menschen, die glaubten, man könne die Welt ändern.

Das Interview mit Theo Angelopoulos führte Marcus Rothe.