Von Auschwitz nach Afrika

Holocaust an den europäischen Juden, Genozid in Ruanda – die Parallelen bei Vorbereitung, Ablauf und Motivation sind deutlich. Werden in Ruanda auch die Versäumnisse der deutschen Vergangenheitsbewältigung wiederholt?  ■ Von Peter Pieck

Wie lange haben die Juden gebraucht, um den Holocaust zu verarbeiten? Wie kann man von uns erwarten, uns so kurze Zeit nach dem Genozid zu versöhnen?“ Dieser Rückgriff auf die deutsche Geschichte stammt vom stellvertretenden ruandischen Innenminister Mutsindashyaka. Er antwortete damit kürzlich auf die zunehmende Ungeduld ausländischer Geldgeber und Beobachter, die auf sichtbare Anzeichen einer nationalen Versöhnung in Ruanda warten.

In der Tat: Wie kann man sich darüber wundern, daß ein Jahr nach einem Genozid, in dem zirka ein Achtel der Bevölkerung eines Landes bestialisch umgebracht wurden, das Mißtrauen unter den Überlebenden übergroß zwischen den Menschen steht?

Es bestehen sowohl im Ablauf der Massenmorde, in ihrer Legitimation durch die Täter und ihre Helfer wie in ihrer Verarbeitung durch den großen Teil der Bevölkerung strukturelle Parallelen zwischen dem Holocaust der vierziger Jahre und dem Genozid in Ruanda zwischen April und Juli 1994.

Es kann nicht um eine Gleichsetzung zweier historisch unterschiedlicher Ereignisse gehen und noch weniger um eine Relativierung des Holocaust durch das, was in Ruanda geschehen ist. Allein die wichtigste Lehre aus Auschwitz und Treblinka, daß es nämlich nie mehr geschehen darf, daß ein ganzes Volk, eine Religionsgruppe oder Ethnie von anderen Menschen systematisch ausgerottet wird, haben wir Nachfahren nur unvollkommen gezogen. Wir lassen es weiterhin geschehen – wenn es nur weit genug von uns entfernt passiert.

Der Genozid in Ruanda war genauestens geplant. Die Milizen gingen planmäßig nach sorgfältig erstellten Listen vor. Die Opfer waren Tutsi und oppositionelle Hutu, die sich politisch gegen die immer noch mächtige ehemalige Einheitspartei MRND engagiert hatten. Es muß viele kleine Wannsee-Konferenzen gegeben haben, um das große Morden so perfekt zu organisieren. Schon in den vorangegangenen drei Jahren hatte es in einigen Gemeinden im Nordwesten des Landes beschränkte Massaker an Tutsi und teilweise auch an Hutu, die nicht aus der „Präsidentengegend“ kamen, gegeben.

Seit dem Beginn der ruandischen Demokratisierung im Jahre 1991, also seitdem selbst der gefährlichste Extremist seine eigene Partei, seine Zeitung und seine „Jugendorganisation“ gründen konnte, waren der gewaltsamen Durchsetzung politischer Ziele Tür und Tor geöffnet: Verleumdung, Kriegstreiberei und Aufstachelung zum Rassismus wurden als Pressefreiheit mißverstanden, Nötigung, Körperverletzung, selbst Mord wurden unter Demonstrationsfreiheit abgebucht.

Sicher war in Ruanda überstürzt versucht worden, eine autoritäre Herrschaft in einen demokratisch organisierten Staat zu transformieren; dies war ein Stück weit auch von außen erzwungen. Daß die „schwache Demokratie“ nicht wuchs, sondern im Inferno endete, lag aber nicht allein an ungenügenden Erfahrungen oder der Unfähigkeit der Institutionen im Lande, sondern letztlich an fehlendem politischen Willen. Die Akteure wollten ja einen größtmöglichen Machtzuwachs und keine Machtkontrolle. Sie strebten die Durchsetzung der eigenen Partikularinteressen an und nicht einen Ausgleich mit anderen Interessengruppen. Die Parallele zur Weimarer „Demokratie ohne Demokraten“ liegt nahe.

Neben einer schwachen Demokratie und der Systematik der Massenmorde liegen Parallelen zwischen Holocaust und ruandischem Genozid in zwei anderen Phänomenen: der Grausamkeit und den Zielen der Mörder.

In Ruanda wurden zwischen 500.000 und einer Million Menschen in 100 Tagen umgebracht. Das ergibt, wenn man diese zynische Rechnung anstellen will, zirka 8.000 Morde pro Tag. In Ruanda gab es keinen Dr. Mengele, aber es gab Ärzte, die kranke Tutsi nicht mehr behandelten. Es gab auch Ärzte und Lehrer und Pfarrer, die zum Massenmord aufriefen, ihn organisierten und aktiv daran teilnahmen. Es waren Frauen dabei, Jugendliche und selbst Kinder. Die ruandischen Mörder benötigten keine KZs, keine Gaskammern. Sie begnügten sich mit Macheten.

Das Ziel der Massenmorde war in beiden Fällen die völlige Ausrottung einer kulturell, religiös oder ethnisch definierten Gruppe, die einen wesentlichen Teil der Bevölkerung ausmachte. „Der Fehler von 1959 – nämlich nur die erwachsenen Tutsi getötet und die Kinder am Leben gelassen zu haben – wird nicht noch einmal gemacht werden“, erklärte der CDR beizeiten. Die Tötung von Menschen wurde nicht als notwendige Bedingung billigend in Kauf genommen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, etwa einen Krieg zu gewinnen oder sich zu bereichern. Die Tötung der Tutsi, und zwar aller Tutsi, war das Ziel.

Die Tutsi hatten bis 1959 über weite Teile Ruandas in einer feudalähnlichen Monarchie geherrscht. Bis in die fünfziger Jahre genossen sie dabei die Unterstützung der belgischen Kolonialherren. Die Hutu wurden zum größten Teil in ökonomischer Abhängigkeit gehalten und sozial benachteiligt. Die Abschaffung der Monarchie 1959 und die Erlangung der Unabhängigkeit Ruandas 1962 wurden aber nicht zum Synonym von sozialer und politischer Befreiung, sondern von Massenmord und -vertreibung. Tausende Tutsi wurden getötet, noch mehr flüchteten ins Ausland.

Ihre über Jahre hinweg aus dem Exil gestellte Forderung, als Ruander in ihre Heimat zurückkehren zu können, wurde von dem seit 1973 herrschenden Präsidenten Habyarimana immer wieder mit den gleichen Argumenten zurückgewiesen: Ruanda ist das am dichtesten besiedelte Land Afrikas. Es sei dort schlicht kein Platz mehr für die im Exil lebenden Landsleute, deren Zahl auf zirka eine Million geschätzt wurde.

Der Anspruch der Exilanten, in ihre Heimat zurückkehren zu können und dort ohne Diskriminierung zu leben, wurde von der Regierungsseite als taktisches Manöver hingestellt, hinter dem sich die Absicht einer erneuten Unterjochung des Landes durch die Tutsi verberge, um die alten feudalen Verhältnisse wiederherzustellen. Diese Verdammung der Exil-Tutsi und ihrer Partei, der RPF, setzte auf die Angst in der Hutu-Bevölkerung – nicht so sehr auf die Angst vor einer Restauration der Monarchie als vielmehr auf die Angst vor einer Vergeltung für erlittenes Unrecht. Die von der Vätergeneration 1959-62 begangenen Freveltaten könnten ja an den Kindern gerächt werden. So rechtfertigte sich die Idee eines „Präventivschlags“ aus Motiven der Selbstverteidigung gegen die Tutsi innerhalb Ruandas, die als „fünfte Kolonne“ der RPF angesehen wurden.

Als Helfershelfer der RPF wurden von den Hutu-Extremisten generell oppositionelle Politiker – Hutu wie Tutsi – angesehen. Sie gehörten zu den ersten Todesopfern. Die größte Gruppe der Opfer waren aber die Tutsi. Das Kriterium, das über Leben und Tod entschied, war allein die ethnische Zugehörigkeit. Müßig sind die Diskussionen darüber, ob diese Differenz zwischen den Ethnien biologisch bedingt ist, sozial, historisch oder sonstwie. „Die Frage der Ethnien ist eine, die sich allein in den Köpfen der Leute abspielt“, wird häufig eingewandt. Als ob das nicht genügen würde! Die Ruander wußten alle, wer Hutu und wer Tutsi war, die Jäger wußten es so gut wie die Gejagten. Es genügte, einen Tutsi zum Vater zu haben, um auf der falschen Seite zu stehen.

Die frappierendsten und gleichzeitig bösartigsten Parallelen zwischen Holocaust und Genozid in Ruanda zeigen sich in der bislang fehlgeschlagenen, weil letztlich nicht gewollten Verarbeitung der Taten. Nicht, daß die Versuche der Verarbeitung durch die Betroffenen nur zögerlich und halbherzig wären – dafür wäre leicht Verständnis aufzubringen. Sondern die Frage nach Schuld und Mitverantwortung an die eigene Person wird im Grunde abgelehnt: Man relativiert und rechnet auf, man streitet ab und laviert, man findet immer neue Schuldige und schreibt sich seine eigene Geschichte.

Die einfachste Art der Schuldabweisung besteht darin, den Kreis der Schuldigen so zu definieren, daß nur andere dazugehören. Meist bleibt nur die ewige kleine Gruppe von Drahtziehern übrig, die wir aus der Geschichte hinlänglich kennen: Himmler, Eichmann, Kaltenbrunner und noch ein Dutzend Schurken.

Nun mag es durchaus sinnvoll sein, die strafrechtliche Aufarbeitung auf einen beschränkten Kreis von Organisationen, Befehlsgebern und aktiven Tätern zu begrenzen. Eine politische und moralische Aufarbeitung des Genozids, die allein die Basis für ein dauerhaftes friedliches Zusammenleben der Ethnien sein könnte, ist aber weit mehr. Abgesehen davon, daß es Massen von Tätern geben mußte, um drei Monate lang täglich zirka 8.000 Menschen zu erschlagen, geht es darum, daß sich jeder die Frage nach seiner persönlichen Mitschuld stellt – auch wenn diese gering sein mag. Denn der Massenmord hatte eine lange Vorgeschichte.

Und außer denen, die mit der Machete selbst Hand angelegt haben, neben den Hetzern und Organisatoren, gab es zahllose Helfershelfer, „kleine Leute“, die den Weg wiesen, die ein Versteck verrieten, die den Nachbarn nicht umbrachten, aber hinterher sein Haus ausräumten. Es gibt viele Leute, die, ohne aktiv mitgemacht zu haben, „den Ereignissen“ (wie die Ruander selbst halb schamhaft, halb unverschämt sagen) mit unverhohlener Sympathie gegenüberstanden. Es gibt noch mehr, die nicht den geringsten Versuch machten, das Schlimmste zu verhindern. Es hat aber auch eine große Zahl kleiner und großer Schindlers in Ruanda gegeben, die ihr eigenes Leben aufs Spiel setzten, um ihre Nachbarn zu retten.

Die Befragung nach Schuld und Mitschuld findet in Ruanda nur sehr zögerlich statt, in den Flüchtlingslagern in Tansania und Zaire gar nicht. Die Parallele zur deutschen „Vergangenheitsbewältigung“ ist deutlich: Nicht jeder unserer Eltern und Großeltern war schuldig geworden. Jeder muß sich aber die Frage nach einer Mitschuld stellen lassen. Wenn in Ruanda die Frage nach der eigenen Mitverantwortung als Anmaßung betrachtet und entrüstet abgewiesen wird, wenn eine Rückkehr der Hutu-Flüchtlinge „in Würde“ gefordert wird und man darunter versteht, die letzten fünf Jahre als biographische Sperrzone zu behandeln, dann gehen die Chancen für ein friedliches Zusammenleben gegen null.

Eine zweite Strategie zur Vermeidung einer Diskussion um die eigene Mitverantwortung besteht in der Relativierung der Schuld: „Die anderen“ haben auch Schuld auf sich geladen. Wir Deutschen kennen diese Form der Auseinandersetzung: Die historischen Zusammenhänge werden willkürlich zerschnitten, um die eigenen Interessen wirkungsvoll zur Geltung zu bringen. Wie für die deutschen Vertriebenen die Geschichte des Leids im Dritten Reich erst im Januar 1945 mit dem Heranrücken der russischen Panzer in Ostpreußen einsetzt, so lassen viele Ruander die Vorgeschichte des Genozids im Oktober 1990 mit dem Einmarsch der RPF auf ruandisches Gebiet beginnen.

Sie vergessen nur, daß ihren exilierten Landsleuten jahrelang das Recht auf Heimat von der ruandischen Regierung verweigert worden war. Die RPF sah 1990 keinen anderen Ausweg als den der bewaffneten Auseinandersetzung. Diese Rechtfertigung eines Krieges ist und bleibt umstritten. Die RPF hat einen Krieg geführt, der auf beiden Seiten zahlreiche Menschenleben gekostet hat. Sie hat schlimme und unentschuldbare Übergriffe auf die Zivilbevölkerung verübt. Niemals verfolgte sie aber das Ziel, die größte Ethnie ihres Volkes auszurotten. Schließlich wird vergessen, daß ab dem 6. April 1994 die RPF die einzige Kraft in Ruanda war, die fähig und willens war, dem Massentöten Einhalt zu gebieten. Viele Tutsi verdanken der RPF ihr Leben, für viele kamen die Truppen zu spät.

Die bösartigste, weil noch die Toten entehrende Strategie der Schuldabweisung besteht aber in dem Versuch, aus Tätern Opfer zu machen. Auch dies kennen wir aus unserer eigenen Geschichte, in der die Nation zu einem bestimmten Zeitpunkt nur noch aus Verfolgten, Vertriebenen und Widerstandskämpfern bestand.

Das flache Gerede vom Leid, das alle gleich trifft, verkleistert das, was selbstverständlich sein sollte: Wer mit seiner Machete zig Leute erschlagen hat, wer zum Massenmord aufgerufen hat und wer dies mit politischem Kalkül organisiert hat, ist Täter. Wer irgendwo verscharrt liegt oder als Hinterbliebener überlebt, ist Opfer. Daran ändert nichts, daß viele Täter arbeitslose Jugendliche mit einer schweren Kindheit waren, daß sie Alkohol getrunken und volksverhetzenden Radiosendungen Glauben geschenkt hatten.

Erst wenn diese banalen Wahrheiten ohne Wenn und Aber von allen anerkannt sind, kann darüber nachgedacht werden, daß es verschiedene Grade von Schuld gibt; daß nicht alle Schuld justitiabel sein muß; daß vielleicht Wege zur Versöhnung über Reue und Verzeihung gefunden werden können. Solange die Mehrzahl der Ruander die Aufforderung zum Nachdenken über die eigene Rolle in den „Ereignissen“ aber als persönliche Beleidigung empfindet, solange Leute, die ein Haus und ihre berufliche Stellung verloren haben, sich in gleichem Maß als Opfer ansehen wie diejenigen, deren Familie vor ihren Augen abgeschlachtet wurde, wird die Sprachlosigkeit zwischen den Ruandern fortbestehen und die Gewalt den fehlenden Dialog ersetzen.

Der Autor ist Diplomsoziologe und arbeitete jahrelang in Ruanda. In den letzten Monaten half er mit beim Wiederaufbau des ruandischen Rechtswesens. In der taz erschien von ihm am 18. Juli 1994 unter dem Titel „Ein gut geplanter Vernichtungsfeldzug“ eine Analyse der Vorgeschichte des ruandischen Genozids. Heute nimmt er in Bonn an einer Konferenz mit ruandischen und deutschen Politikern zur Aufarbeitung des ruandischen Völkermords teil.