Kreuzberger Enigma

■ betr.: „Rot-Grün in Kreuzberg scheitert an Romberg“, taz vom 18./19. 11. 95

Schon diese Überschrift ist falsch. In Kreuzberg kann – auch an Romberg – Rot-Grün gar nicht mehr scheitern. Das geschah schon vor Jahren – durch die SPD. Zwar sah es ab 1981 zunächst so aus, als ließe sich zum schwarz-gelben Senat ein Kreuzberger rot-grünes Gegenmodell entwickeln.

Zu verdanken war das anfängliche Aufblühen dem Legitimationsdruck, dem sich die SPD ausgesetzt sah. Zum einen durch die Notwendigkeit, sich der von den Grünen, deren Basis und ihrem Stadtrat propagierten, eingeforderten und eingeleiteten politischen Lösung des Konfliktes um die Hausbesetzungen positiv zu stellen. Zum anderen durch den unausweichlichen Zwang zur Mithilfe bei der Durchsetzung und Sicherung der behutsamen, bewohnerorientierten, sozialverträglichen und ökologischen Stadterneuerung, die ihren Schwerpunkt in Kreuzberg hatte und der sich die Kreuzberger SPD bei Strafe weiterer Wählerverluste nicht länger verweigern durfte.

Ab 1986/87 jedoch gab es in der Kreuzberger BVV immer öfter rot-schwarze oder schwarz-rote Beschlußkoalitionen. An ihnen scheiterten damals bereits die meisten Vorhaben, bei denen die Grünen wesentliche Elemente eigener Politik durchbringen wollten.

Das änderte sich auch nicht, als die Grünen zur Abwehr eines drohenden Rep-Stadtrates (den man durch Abwahl ganz schnell hätte wieder loswerden können) sich von der SPD am moralischen Portepee packen ließen und durch den Übertritt eines Fraktionärs zur SPD dieser den Zugriff auf ein drittes Stadtratsamt ermög-

lichten. Wie prophezeit: Gedankt haben das die Sozis den Grünen nie.

Im Gegenteil. Mehr und mehr versuchte die SPD, die Grünen zu Mehrheitsbeschaffern für eigene Zwecke zu instrumentalisieren. Vor allem dann, wenn die CDU mitzuziehen abgewinkt hatte. Und immer öfter stimmten dann SPD und CDU gegen die Grünen. Auch der blindwütige Haß auf grüne Kandidaten, mit denen ein Wahlsieg errungen wurde, ist überhaupt nichts Neues. 1985, als die SPD einen ähnlichen Zirkus um meine (Wieder-)Wahl veranstaltete wie heute mit Erika Romberg, hatte ich öffentlich von „Wahltheater“ gesprochen und dafür plädiert, daß zu dessen künftiger Vermeidung zunächst alle jeden Kandidatenvorschlag akzeptieren sollten. Bei Versagen oder Fehlverhalten der Gewählten bliebe schließlich deren Abwahl und die Aufteilung des Ressorts. (Tiergarten hat es dann vorgemacht.)

Obwohl nun eindeutiger Wahlverlierer, bläst die SPD sich immer noch so auf, als wäre sie unverändert die Führungsfraktion in der BVV, die maßgeblich alles zu bestimmen habe. Und im Bezirksamt? Dort beansprucht sie – arrogant und selbstherrlich wie stets – für den einzigen ihr noch verbliebenen Stadtratsposten ein Superdezernat aus Bau, Finanzen und Wirtschaft. Neuerdings hört man sogar davon, daß die SPD – im Widerspruch zu öffentlichen Erklärungen ihrer Führung – nun doch das Bürgermeisteramt besetzen möchte. Anscheinend war die Quittung, die die Wähler ihr ausgestellt haben, noch nicht deutlich genug.

Gerade deshalb dürfen die Grünen nicht umfallen und auch diesmal nicht von ihrer Spitzenkandidatin abrücken. Einmal, weil sie sonst an Glaubwürdigkeit verlieren würden – weit mehr als die SPD, wenn diese – zu politischer Vernunft zurückkehrend und wieder mehr Weitsichtigkeit gewinnend – sechs ihrer 14 Fraktionsmitglieder Frau Romberg mitwählen ließe oder sich geschlossen der Stimme enthielte. Zum zweiten, weil beharrliches Festhalten der Grünen an ihrer Bürgermeisterkandidatin die Möglichkeit bietet, eine sture SPD als autistische, ritualbesessene „Beschlußfetischistin“ vorzuführen, die – per Zählgemeinschaft – lieber einen „Schwarzen Peter“ zum Bürgermeister küren würde, dabei allerdings vollständig verdrängen müßte, daß auch Herr Peter oft heftiger Kritik ausgesetzt und ebenfalls mit Abwahl bedroht war. Vielmehr sollte die SPD trotz gegenteiliger Rundschreiben der Senatsinnenverwaltung das tun, was sie stets für sich reklamierte und was die Grünen immer respektiert hatten: Nur die stärkste Fraktion hat das Vorschlagsrecht.

Wenn Rot-Grün in Kreuzberg politisch-inhaltlich noch einmal eine Chance haben und nicht alles restlos auf den Kopf gestellt werden soll, führt an Erika Romberg kein Weg vorbei. Bei allen Vorbehalten: Die Grünen müssen fest zu ihr stehen – allein schon aus Selbstachtung. Diese nicht zu verlieren ist wichtiger als ein vermeintlich kluger taktischer Zug in der Hoffnung auf einen kurzfristigen strategischen Verhandlungs-„Erfolg“. Und die SPD? Die muß über ih-

ren schwarzen Schatten springen und Frau Romberg durchgehen lassen.

Geschieht dies nicht, so müßten die Grünen vor Scham rot und die Roten sollten dann besser gleich Schwarze werden. Werner Orlowsky