Wenn der Nabel zurückschaut

Halb Priesterseminar, halb Workshop: In Wiesbaden tagte die psychoanalytische Vereinigung. Sehr viel Welt dringt nicht nach innen. Die Freudsche Methode wird gegen unberufene Emotionsmanager verteidigt – und weiter verfeinert  ■ Von Ute Holl

Abstinenz, freischwebende Aufmerksamkeit und freie Assoziation, drei Grundregeln für den Analytiker im psychoanalytischen Prozeß, stünden auch Kongreßbeobachtern gut an. Doch der Witz ist, daß es nicht klappt. Unter rund 600 Analytikern wird die Deutung zur Sucht.

Als sich im feinen Pallas-Hotel von Wiesbaden die Mitglieder der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung zur Herbsttagung über „100 Jahre psychoanalytische Methode“ trafen, war schon Schluß mit der Abstinenz.

Die DPV, der nach der Gleichschaltung im Nationalsozialismus 1950 neugegründete Berufsverband der Analytiker, muß sie sich inzwischen den Vorwurf gefallen lassen, wie ein Priesterseminar das Wissen von der Wahrheit zu verwalten. Sie muß sich legitimieren gegen andere Therapieverfahren und Instantkuren, die Emotionsmanager auf den Markt werfen, und: Sie soll benennen, wie das Unbewußte und sein Subjekt strukturiert und also transformierbar, „heilbar“ sind im Zeitalter von vaterlosen Herrschaftsstrukturen und Objektwahl im Cyberspace. Die Jugendlichen, die sich aus dem Sprachgewirr der Vorstädte verabschiedet haben in Welten von Zeichen mit verborgenem Sinn: Alles postmoderner, unanalysierbarer Abfall? Will die Psychoanalyse sich auf die Seelen konzentrieren, die sich zu schönen zusammensetzen lassen, so daß die Krankengeschichten sich, wie Freud fand, wie Novellen lesen lassen? Und soll es der anderen Jahrhunderttechnik, dem Film als Couch der Armen, überlassen bleiben, den schmierigen Rest der neurotischen und hysterischen Fragmente von Liebesgeschichten in einen imaginären Raum von Zeichen des Abfalls zusammenzumontieren – Pulp Fiction?

Fragen über Fragen, auf die keine Antworten zu hören waren, statt dessen hieß der Kongreßhit: Ver-antwortung. Geschickt gemacht, denn zwei Ereignisse markieren den Anfang der psychoanalytischen Methode 1895: Die „Studien über Hysterie“ und Freuds Deutung seines eigenen Traums von „Irmas Injektion“. Der Traum handelt davon, daß Freud nicht die Verantwortung dafür trägt, daß bei seiner Patientin Irma seine Kur nicht anschlägt. Freund Otto hat Schuld, träumt der Traum, denn der hat Irma eine falsche Injektion mit einer infizierten Nadel gegeben. Freud analysiert seinen Traum als sinnvollen psychischen Mechanismus, und er schließt: Der Traum ist eine Wunscherfüllung. Und: Er ebnet den Königsweg zum Unbewußten, über den die Konflikte, die da kämpfen zwischen Libido und gesellschaftlichen Konventionen gelöst werden können.

Die einhellige Botschaft der Vortragenden auf dem Kongreß an die Kollegen hieß, Verantwortung zu übernehmen dafür, daß dieser Weg begehbar bleibt. Nicht gegen den Widerstand der Patienten und an deren Stelle Deutungen geben, sondern den Raum sichern, in dem erzählt wird. Denn ebenfalls am Anfang der Methode stand die Erkenntnis: „Die Patientin weiß mehr“, wie der Vortrag der Freud-Forscherin und Editorin Ilse Gubrich-Simitis titelte. Freud hatte in Paris bei Charcot das Sehen gelernt, aber erst von seinen Hysterikerinnen das Zuhören und Zeitlassen. In Zeitspannen, die alle konventionellen Behandlungsräume (und inzwischen auch die Regeln der Krankenkassen) sprengen, lernte er aus den talking cures, daß Wissen und Nicht-Wissen sich in ein seltsam produktives Verhältnis setzen lassen. Daß sich daraus schließlich die Novelle, die bis dahin „unerhörte Begebenheit“ entwickelt, die Sinn in das Dunkel der Lähmungen, Zuckungen und Krämpfe bringt, über die die Hysterikerinnen klagten – das war der Schock an Freuds Entdeckung.

Dagegen ist die Gelassenheit des Kongresses hundert Jahre später verblüffend: Die Methode wird verfeinert und gegen alle Angriffe von außen verteidigt. Daß das Außen nicht ganz außen vor bleibt, demonstrierte immerhin Conrad Stein, Analytiker, Lehrer und Forscher aus Paris, der – da man dort wie zu Ehren Louis Malles im Streik war – mit Verspätung eintraf. „Ich bin nicht schuld“, rief er, „Freund Otto war's.“

Doch die kleinen Nadeln, mit denen sein Vortrag gespickt war, schienen die Kollegen nicht allzusehr zu infizieren. Paradox sei doch, wie Freud sich darüber freute, daß die Patientinnen selbständig frei assoziierten und ihre Vorstellungsgebilde dennoch in der Art des Analytikers deuteten! Diskret und sehr französisch läßt er die Fragen nach Wissen und Macht anklingen, doch in Deutschland scheint das (zur weiteren Bearbeitung) geschoben in die Akte „Übertragung und Gegenübertragung“, der Kommunikation unbewußter Wünsche zwischen Arzt und PatientIn.

Meßbar sollen die Ergebnisse der Methode sein, das verlangt die Redlichkeit der Wissenschaftler. Und bei soviel Redlichkeit wäre es nicht recht, die vielen kritischen Arbeiten von Analytikern zu übergehen, die in den dreizehn Gruppen und fünf Foren der Tagung vorgestellt und diskutiert wurden. In der konkreten Anwendung scheint sich einzulösen, was sich in der Methodendiskussion auflöste.

Da wurde unter anderem das Prinzip „Herrschaftsfreiheit“ der psychoanalytischen Methode unter die Lupe genommen, die Frage der Psychoanalyse weiblicher Homosexualität gestellt. Barbara Vogt, die Entschädigungsgutachten für KZ-Häftlinge und Verfolgte des Dritten Reiches erstellt hatte, zeigte aus psychoanalytischer Sicht, inwiefern das Verfahren der sogenannten Wiedergutmachung zu einer Reinszenierung der Verfolgung wurde. Unglücklich, daß alle dreizehn Arbeitsgruppen zur gleichen Zeit stattfanden.

Zuviel oder zu wenig Organisation? In einer Fußnote zur Deutung seines Traums von Irmas Injektion schrieb Freud: „Ich ahne, daß die Deutung dieses Stücks nicht weit genug geführt ist, um allem verborgenen Sinn zu folgen. (...) Jeder Traum hat mindestens eine Stelle, an welcher er unergründlich ist, gleichsam einem Nabel, durch den er mit dem Unerkannten zusammenhängt.“ Die Reste, die die Analyse nicht zum System machen, sondern zum Prozeß, der zwischen vielen läuft, ließen sich auf der Tagung nicht recht zur Sprache bringen. In Pulp Fiction würde man den Nabel einfach küssen.