Atomflotte verstrahlt den Norden vorsätzlich

■ Brennstäbe lagern in alten Tanks, Müll wird auch künftig im Meer versenkt

Oslo/Brüssel (taz/rtr) – In der Nähe der norwegischen Grenze lagern auf der Halbinsel Kola Dutzende von Containern mit insgesamt 21.000 abgebrannten Brennstäben aus russischen Schiffsreaktoren, teilweise unter freiem Himmel. Jeder dieser Container enthält strahlendes Material in der Größenordnung, die bei der Explosion einer Atombombe frei wird. Laut einer Studie der norwegischen Umweltgruppe Bellona sind die Tanks für eine Betriebszeit von vier Jahren berechnet, teilweise aber schon über zwölf Jahre alt. In dem Gebiet um Zapadnaja Litsa, der U-Boot-Basis der Nordmeerflotte, sei das Strahlenrisiko mehrere hundertmal höher als im Unglücksreaktor von Tschernobyl, sagte der Mitautor der Studie, Thomas Nilsen, am Mittwoch in Brüssel. Laut Nilsen stammen die Angaben von Militärangehörigen, die die Anlagen besuchen dürfen.

Das Umweltministerium in Moskau hat diese Woche noch eins drauf gesetzt: Es teilte der norwegischen Regierung mit, daß Rußland weiterhin flüssigen Atommüll aus Atomreaktoren von Schiffen ins Nordmeer pumpen will. Die Lagerkapazitäten im Land seien übervoll, so das Ministerium, es bestehe grundsätzlich keine andere Möglichkeit. Damit sind auch alle Hoffnungen zunichte, das Land werde die seit dem 1. Januar 1994 geltende Londoner Konvention gegen die Versenkung von Atomabfall in die Meere unterzeichnen.

Allgemein war gehofft worden, die Unterzeichnung werde im Dezember nachgeholt. Ein wesentlicher Grund dafür, daß dies nicht geschieht: der Bau einer von den USA und anderen westlichen Ländern finanzierten Entsorgungsanlage in Murmansk kommt nicht vom Fleck. Dort ist derzeit noch eine Anlage aus Sowjetzeiten in Betrieb, die jährlich rund 500 Kubikmeter radioaktiven Wassers reinigt. Mit drei Millionen Dollar Investition sollte deren Kapazität eigentlich auf 5.000 Kubikmeter erhöht werden. Unklar ist, warum das Projekt nicht fertig wird. Nach den Messungen einer russisch-norwegischen Forschergruppe ist die Belastung mit dem radioaktiven Cäsium 137 in den betroffenen Seegebieten doppelt so hoch wie normal. Im Nordmeer wurden an 13 Atomreaktoren, 17 ausgedienten Atom-U-Boote und über 7.000 strahlenden Abfallcontainern mehrfach höhere Werte gemessen. Reinhard Wolff

Die taz schlägt zur Katalogisierung all der atomaren Katastrophen eine neue Einheit vor: das „Tsch“. Ein Tsch ist die Größe der Verstrahlung durch die Reaktorschmelze in Tschernobyl.

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