Stuttgart wird neu erfunden

Der Bahnhof soll unter die Erde und 40 Prozent der Innenstadt neu gestaltet werden. Fünf Milliarden Mark soll die neue Stadt kosten  ■ Aus Stuttgart Philipp Maußhardt

„Stuttgart 21“ heißt das Zauberwort, das den Schwaben derzeit den Glanz in die Augen treibt. Mitten im Zentrum soll auf einer Fläche von rund 100 Hektar in den nächsten 20 Jahren ein neuer Stadtteil entstehen. Das Geschenk stammt von Bundesbahnpräsident Heinz Dürr (Schwabe) und Bundesverkehrsminister Matthias Wissmann (Schwabe). Beide wollen den bisherigen Sackbahnhof in einen Durchgangsbahnhof umbauen lassen und zwölf Meter tief unter die Erde verlegen. Weltstadtträume machen sich breit: Auf dem alten riesigen Gleisareal entsteht die Stuttgart-City des 21. Jahrhunderts – Wohnungen für 11.000 EinwohnerInnen und 24.000 Arbeitsplätze. Kosten: 5.000.000.000 Mark.

Die meinen das ernst. Mitte November wurde in Stuttgart eine Rahmenvereinbarung unterzeichnet, in der ein grober Zeitplan festgelegt und die notwendigen Milliarden zwischen Bahn, Bund, Land und Stadt verschoben wurden. Das Projekt hat eine Größenordnung, die den wenigsten Stuttgartern überhaupt vorstellbar ist. Das hat so gar nichts mehr mit Städtle, Weckle und Viertele zu tun. Stuttgart muß neu erfunden werden. Die Fläche, die da ab 1998 plötzlich für die Stadtentwicklung zur Verfügung steht, umfaßt 100 Fußballfelder oder anders: Sie ist so groß wie rund 40 Prozent der jetzigen Innenstadt. Eine solche wundersame Stadtvermehrung hat es in Deutschland noch nie gegeben, und darum soll Stuttgart 21 auch als ein Modell dienen für 20 weitere Fälle, in denen die Bahn ihre rostigen Gleisanlagen in deutschen Innenstädten versilbern möchte.

Man versteht nun, warum die Väter des Konzepts kaum noch Worte fanden, um ihre Freude über das Zustandekommen der Vereinbarung auszudrücken. Der baden-württembergische Ministerpräsident, Erwin Teufel, sprach von einer „Utopie, die nun Wirklichkeit“ werde, während Verkehrsminister Matthias Wissmann im ins Meer entrückten Schwabenland plötzlich „einen Leuchtturm“ blinken sah, weit über den Tellerrand hinaus: „Einmalig in Europa.“

Die Schwaben, seit der Wiedervereinigung in panischer Angst, wirtschaftlich, politisch und verkehrstechnisch an den Rand gedrängt zu werden, atmen auf. Für sie war der gute, alte „Sackbahnhof“ inzwischen zum Synonym dafür geworden, daß hier die Ströme der Zukunft vorbeilaufen. Mit der jetzigen Planung des neuen Durchgangsbahnhofs will Stuttgart seine Hochgeschwindigkeitstauglichkeit unter Beweis stellen: Vier ICE- und ECE-Linien sollen sich hier kreuzen und Hamburg mit München und Paris verbinden. Doch auch der Regionalverkehr wird vom neuen Bahnhof profitieren. Wer immer das auch möchte: Im Jahr 2008 geht die Reise von Mühlacker nach Geislingen in 15 Minuten schneller.

Die Finanzierung des Fünfmilliardenprojektes haben sich die vier Vertragspartner grob so vorgestellt: Etwas mehr als zwei Milliarden hofft die Bahn durch den Verkauf der alten Gleisgrundstücke zu bekommen. Eine Milliarde gibt der Bund dazu, das Land, die Stadt und die Region Stuttgart die nächste Milliarde, und den Rest trägt die Bahn AG. Und wie immer, wenn es um solche Dimensionen geht, fehlt es nicht an Bedenkenträgern. Erwin Teufel nennt sie der Einfachheit halber „Kleingeister“.

Fritz Kuhn, Fraktionschef der Grünen im Landtag, sieht schon das viele Geld im Untergrund verschwinden, ohne daß sich dadurch für die bahnfahrenden Menschen viel verbessert. Denn in der Tat lassen die Planungen die Befürchtung zu, durch den neuen nur achtgleisigen Bahnhof werde ein Engpaß entstehen, der irgendwann zum Nadelöhr werden könnte und durch den der Ausbau des integralen Taktfahrplanes reduziert werden muß. So kommt man in Zukunft zwar von Stuttgart schneller nach Ulm. Meckenbeuren und Durlesbach aber, wo die „schwäbische Eisabahna“ dereinst noch hielt, könnten als Beispiel für das weite schwäbische Hinterland von der Welt abgehängt werden. Dabei würden zwei zusätzliche Bahnsteige, das hat die Bahn AG ausgerechnet, nur 181 Millionen Mark mehr kosten – ein Klacks in diesem Milliardenspiel.

Mit den ersten Bauarbeiten soll schon in vier Jahren begonnen werden. Dann wird die City über Jahrzehnte eine Großbaustelle bleiben. Daß schon jetzt in der Innenstadt jede Menge Bürofläche leer steht, schreckt die Planer dabei nicht: Es kann doch mit der Wirtschaft nicht ewig so weitergehen. Und deswegen ist die Bahn AG auch zuversichtlich, zahlungskräftige Käufer zu finden, die die Grundstückspreise von bis zu 17.000 Mark pro Quadratmeter berappen können.

Den Bahnreisenden wird bereits im alten Bahnhof über eine Großleinwand die Vision mit auf den Weg gegeben: Auf den schemenhaften Bildern von der Zukunft ist allerdings nicht klar zu erkennen, ob da einmal Manhattan oder Castrop-Rauxel am Neckar entstehen wird. Kritik an der Gigantonomie der Planungen übte schon einmal prophylaktisch der Präsident der Bundesarchitektenkammer, Professor Roland Ostertag. So wie durch die Straßenschluchten und Verkehrsknoten verschandelte Städte bislang mit ihren Möglichkeiten umgegangen seien, befürchtet der Architekt das Allerschlimmste: „Skepsis, ja Pessismismus ist hier am Platz“, meinte Ostertag in einem Stadtmagazin.

Wo alles ins Wanken gerät, bleibt einer standhaft: Der alte Bahnhof, von seinem Erbauer Paul Bonatz liebevoll der „Nabel Schwabens“ getauft, soll stehenbleiben. Ein Poesiefreund in der Bundesbahnverwaltung hat über den Haupteingang vor wenigen Jahren ahnungsvoll die blaue Leuchtschrift anbringen lassen: „...daß die Furcht zu irren schon der Irrtum selbst ist.“ Ein Hegelwort, ein wahres Wort. Denn ein „wackrer Schwab forcht sich nit“. Irrtum in Stuttgart also ausgeschlossen.