„Ein Bett ist noch kein Zuhause“

■ Mehr als 3.000 geistig Behinderte und BetreuerInnen demonstrierten in Bonn gegen zunehmende Sparmaßnahmne

Bonn (taz) – Micha ist 27, geistig behindert, er wird von seinen Eltern betreut. Er steht auf Platz 70 der Warteliste für einen Wohnheimplatz in Bonn. Das sind vier bis fünf Jahre Wartezeit mindestens. Wieviel Betreuung er dort erwarten kann, steht in den Sternen, denn Pflegeversicherung und Bundessozialhilfegesetz schnüren gegenwärtig die Leistungen für geistig Behinderte „unerträglich“ und „menschenverachtend“ ein, wie es Betroffene formulieren.

Mit seiner Mutter gehört Micha zu den 3.000 DemonstrantInnen, die gestern vor der Bonner Kunsthalle den Platz füllten, um gegen eine neue „Apartheid“ gegenüber geistig Behinderten zu demonstrieren. Behinderte, Betreuer und Eltern sind einem Aufruf der Bundesvereinigung Lebenshilfe gefolgt. „Wir sind nichts wert“, sagt ein Mitarbeiter aus einer Behindertenwerkstatt in Quedlinburg. 200 Mark verdient ein geistig Behinderter im Monat dort, bei vollwertiger Arbeit. Und das wäre schon viel, denn in einer benachbarten Werkstatt seien es nur 40.

Rund 75 Prozent der geistig Behinderten leben in ihren Familien, weil andere Betreuungsplätze Mangelware sind. Und dort erschwert das Pflegeversicherungsgesetz menschennahe Pflege immer mehr. Heilerziehungspfleger werden nicht mehr anerkannt, nur praxisferne Krankenpfleger dürfen die Einrichtungen leiten. „Vier Jahre Fachausbildung von uns sind praktisch für die Katz“, schildert Julie aus der Nähe von Heilbronn, „wir kämpfen hier für uns und für die wehrlosen Behinderten um die es geht.“ Denn für individuelle Betreuung räumt der Staat keine Mittel mehr ein. Das neue Bundessozialhilfegesetz vergibt Gelder nur noch nach Durchschnittswerten, mit geringen Steigerungsraten pro Jahr, die nicht einmal kostendeckend sind. „Ein Bett ist noch kein Zuhause“, hat daher ein Demonstrant auf sein Transparent geschrieben, und „Pflegeversicherung ohne Heilerziehungspflege, das ist wie Weihnachten ohne Tannenbaum“. Holger Kulick