„Literarischer Lustgarten“ am Panke-Ufer

Weddinger Wechselbad: die neue Stadtbücherei im alten Luisenbad / Die ehemalige Badeanstalt am Gesundbrunnen ist heute ein lauschiges Plätzchen für Amüsement und Kultur / Teil III der Serie „Orte im Wandel“  ■ Von Hans Wolfgang Hoffmann

Der Lärm der Bagger zerreißt die Stille des Weddinger Panke- Ufers. Ihre Klauen fressen sich durch die Wand eines verblichenen Tanzsaales. Ein Ort steht vor der Auslöschung. Das war im Jahr 1982.

Tief im Block blieb eine Wand stehen, offen wie eine Wunde. Vorn, an der Ecke Travemünder Straße, erinnert ein Relief an der Fassade des Eckhauses an die Vergangenheit des Luisenbades: Ein Mamorbrunnen und der Schriftzug „In Fonte Salis“. Hier, auf einer Weide am Ufer der Panke, baute der Hofapotheker Behm im 18. Jahrhundert eine Quelle zum „Gesundbrunnen“ aus, der der Straße, dem Quartier und dem U- und S-Bahnhof den Namen gab.

Hundert Jahre später hatte das Wachstum Berlins die idyllische Kuranlage eingeholt. An der Badstraße wurden die Mietskasernen höher und prachtvoller, als sonst in Berlin.

Besonders hemmungslos garnierten die Brüder Galuschki ihre Häuser. Der Zimmermann und der Maurer aus dem Mecklenburgischen verwandelten das Heilbad in einen Amüsierbetrieb ganz nach dem Geschmack der Arbeiterschaft. Zur Jahrhundertwende floß aus der Quelle vor allem Bier. Kegelbahn, Trinkhalle, Billard, Tanzsaal, Schießbude, Kinematographentheater, Badeanstalt: Ständig wurde um- und angebaut. Eine Collage entstand: Kacheln neben Backstein, Fachwerk neben Putz, verwinkelt, prächtig, bunt.

Nach Krieg und Mauerbau verwahrloste die Badeanstalt in der Abgeschiedenheit des Blocks. Nur das Kino hielt bis 1980 durch. Die ebenso simple wie hilflose Lösung hieß: Abriß. Nur die Vorderhäuser wurden saniert. Proteste der Anwohner brachten die Bagger zum Stehen. Der Denkmalschutz trat auf den Plan. Die (benachbarten) „Planer in der Pankemühle“ machten den Vorschlag, das alte Bad wieder in Gebrauch zu nehmen: als Stadtteilbibliothek, die die zu klein gewordene Hauptstelle am Nauener Platz ersetzen soll.

Den Wettbewerb von 1988 gewannen die jungen, in Berlin lebenden AmerikanerInnen Rebecca Chestnutt und Robert Niess, die bereits das Doppelwohnhaus am Flughafen Tempelhof entworfen hatten. Mit einem Zirkelschlag fassen sie die baulichen Reste zusammen. Diese wurden restauriert und bilden nun einen Vorhof, der sich zum Ufergrünzug der Panke öffnet.

Die bestehenden Gebäude nehmen die Verwaltung auf, das alte Vestibül wird zum Eingangsfoyer. Doch das Entscheidende spielt sich auf der Rückseite ab. Genau an der Wand, wo einst der Abriß begonnen hatte, plazierten sie den weiten, markanten Bogen des neuen Lesesaals.

Das Konzept setzt Galuschkis Collagen-Konzept fort. Eigentlich ist auch der Lesesaal „nur“ ein weiterer Anbau, aber ein konsequent moderner: kein Nachahmen, keine Nostalgie. Der kleinteiligen, handwerklichen, schmuckreichen Bauweise des letzten Jahrhunderts stellten die Architekten die schlichten Materialien, den geometrischen Körper, den großen, freien Raum der Moderne entgegen. Schon lange nicht mehr traten Architekten in Berlin einem historischen Ensemble mit so viel Selbstvertrauen gegenüber. Und siehe da, jede Epoche behält ihre eigene Würde. Im Kontrast zwischen Alt und Neu sind beide Teile stärker als zuvor.

Der neue Lesesaal ist nicht einfach an das Alte angeklebt. Tiefer gelegt und darunter geschoben, legt der Saal die Nahtstelle frei, überhöht die von den Ausmaßen eher bescheidenen Altbauten. Eine keilförmige Glasfuge im Dach hält beide Teile in respektvollem Abstand und erhellt die einstmals offene Wunde.

Der Weg hinab vom Counter zum Buch gerät zu einem Lehrpfad der Baugeschichte. Eine Rampe windet sich durch den Raum, um die Wand, führt vorbei an allen Spuren, die die Zeit hinterlassen hat, vorbei an der Pracht und an den Wunden. Ein Bauwerk, so der Gedanke, ist nicht von dem Augenblick an wertvoll, an dem es gebaut wird. Erst die Würde des Alterns macht es zum Denkmal. Die Architekten wollten die Wand erhalten wie sie 1988 vorgefunden wurde, mit allen Brüchen, mit verwitterter Farbe. Doch diese Haltung führte zu Konflikten. Die Politik wollte eine „schöne, neue, saubere“ Bücherei. Nichts sollte an die Abrißpolitik von einst erinnern. Für die Denkmalpflege kam nur eine getreue Wiederherstellung des Originalzustandes in Frage.

Was damit gemeint ist, zeigt der „Puttensaal“ im ersten Stock: Altes wird „wie neu“ vorgeführt. Die exakt nachgemischten Farben erzählen uns einiges über den Geschmack jener Zeit, doch nichts über das Schicksal des Bauwerks.

Für die Rückwand gingen Dutzende von Farbstudien zwischen den Beteiligten hin und her. Am Ende stand ein „Kompromiß“: Hier ein bißchen Restauration, dort verschwinden die konservierten Trümmer unter einer billigen Vorsatzschale. Gipskarton verdeckt die architektonische Spannung zwischen Bauherr, Denkmalpflege und den Architekten, zwischen Alt und Neu. Es waren diese Konflikte, die den Baufortschritt lange verzögert haben. Zwischen Planungsbeginn und der Eröffnung am 1. November dieses Jahres verging nahezu ein ganzes Jahrzehnt.

Doch das sind Details. Das mutige Nebeneinander hat vor allem einladende Räume geschaffen. Egal, ob man sich unten in die intimeren Winkel des Bücherlabyrinths zurückzieht oder oben auf dem Schmökerpodest steht. Ein horizontales Fensterband erweitert den Raum. Wie Sehstrahlen dringen die Leuchten durch das Glas. Der Blick findet seinen Halt erst an den verwitterten Backsteinmauern der Grundstücksgrenze. Sie umschließen einen intimen Hof. Wenn die Bibliotheksleitung ihre Angst vor Diebstahl überwindet, wird er sich im Sommer in einen „literarischen Lustgarten“ verwandeln.

Ausstellungen und Konzerte sind geplant. Einen kleinen Vorgeschmack gibt die Holzskulpturenschau „Klangschatten“, die bis zum Frühjahr zu sehen sein wird. In direkter Nachbarschaft haben sich schon vor Jahren Bildhauer ihre Werkstatt in einer ehemaligen Tresorfabrik eingerichtet.

Doch noch ist die alte Kachelschrift „Kaf‘e Kuchen“ neben dem Eingang ein leeres Versprechen. Es gilt, die Chance zu nutzen. In kaum einem Berliner Hinterhof finden Kultur und Amüsement ein so lauschiges Plätzchen.

Literatur: „Bibliothek im Luisenbad“, Hrsg. Bezirksamt Wedding, Abteilung Bau- und Wohnungswesen, kostenlos, erhältlich in der Bibliothek, Travemünder Straße 2, Berlin-Wedding.

In der nächsten Folge der Serie „Orte im Wandel“ am 7. Januar 1996: Aus der Mitte – was wird aus der Spreeinsel?