Drängler, Decker und Zieher

■ Taschendiebe handeln arbeitsteilig und brauchen den Körperkontakt zum Opfer. Die Täter sind meistens zwischen 13 und 30 Jahre und "können mit zwei Fingern einfach alles"

In der Schalterhalle des Postamtes 27 in Tegel. Ein junges Paar beobachtet, wie eine alte Frau sich Geld auszahlen läßt. Das Geld verstaut sie in ihrer braunen Handtasche mit vergoldetem Magnetverschluß. Als die 71jährige auf den Ausgang zusteuert, kreuzt sie das Paar, dem genau in diesem Moment Geldstücke zu Boden fallen. Die alte Frau sucht in gebückter Haltung gemeinsam mit dem Paar nach den Münzen. Sie merkt nicht, wie ihr die Handtasche geöffnet und das eigene Geld – 2.200 Mark – entwendet wird.

Taschendiebe suchen Postämter vornehmlich zum Monatsbeginn auf. Dann nämlich, wenn sich alte Menschen ihre Rente abholen. Ansonsten fühlen sich die Langfinger da wohl, „wo Gedränge herrscht“. „Denn“, so erklärt der Leiter des zuständigen Kommissariats 4215 beim Landeskriminalamt, Klaus Schwob, „ohne das Opfer zu berühren kommt der Täter an seine Beute nicht ran.“ Im Gedränge aber ist der Körperkontakt die Regel. Daher sind Busse, Bahnen und Einkaufszentren beliebteste Anlaufstellen für Taschendiebe. Vor allem jetzt zur Vorweihnachtszeit herrscht wieder Hochkonjunktur, sagt Schwob, „weil das Geld besonders locker sitzt“.

Die Polizei kennt ihre Pappenheimer: Taschendiebe beobachten vorher ihr Opfer, um sicherzugehen, daß sich der Griff auf die Geldbörse lohnt. Dann warten sie auf die geeignete Situation, etwa das Gedränge vor einem Bus beim Einsteigen. Dabei gehen die Taschendiebe zumeist arbeitsteilig vor. Ein „Drängler“, der das Geschiebe zusätzlich dadurch verdichtet, daß er beim Einstieg in den Bus sich die Schuhe zubindet, stürzt oder den Fahrer nach dem Weg fragt. Dieser Drängler steht meistens vor dem Opfer, dann folgt der „Decker“, der das Objekt der Begierde abdeckt, damit der Dritte im Bund, der „Zieher“, ungesehen zugreifen kann. Eine sichere Sache. Der Bestohlene steigt ein, der Drängler steigt hinten aus, und der Bus fährt mit Opfer, aber ohne Täter los. Erst jetzt, wenn nicht erst zu Hause, registriert der Bestohlene seinen Verlust. Bei dieser „klassischen Form“ (Schwob) des Taschendiebstahls setzen die Täter auch gerne Hilfsmittel wie Trenchcoats mit Durchgriff nach innen ein. Bewährt hat sich auch die Plastiktüte, die am Handgelenk baumelt und mit der zunächst der Zugriff abgedeckt und die Beute dann später eingewickelt wird.

Die Täter sind zwischen 13 und 30 Jahre jung. „Auffallend viele Kinder“, sagt Schwob, „man könnte vermuten, daß die von Erwachsenen vorgeschickt werden.“ Vermuten. Zu mehr fehlen ihm die Beweise. Genauso wie Erkenntnisse darüber, ob hinter dem einfachen Delikt des Taschendiebstahls große Banden stecken. Der Kommissar weiß nur, daß „wir sehr viele Wiederholungstäter haben“. Nicht nur strafunmündige Kinder werden zum Klauen vorgeschickt, sondern auch Schwangere und Mütter mit Säuglingen auf dem Arm. „Die verdächtigt man natürlich nicht so leicht.“

Schwob berichtet von weiteren Variationen des Taschendiebstahls. „Der Phantasie, wie ich einen Körperkontakt legitimiere, sind keine Grenzen gesetzt.“ Eine beliebte Variante ist der Stadtplantrick. Zwei Personen fragen mit Stadtplan in der Hand nach dem rechten Weg. Sie breiten den Plan aus und nehmen den Hilfsbereiten in ihre Mitte. Schulter an Schulter wird konzentriert in die Karte geguckt. Ein Dritter schleicht sich von hinten ran, „um die Geldbörse zu entwenden“.

„Die sind schon sehr geschickt, diese Leute“, sagt der Polizist, „die kennen sich mit Verschlüssen aus und können mit zwei Fingern einfach alles.“ Schwob macht mit seiner Hand nach, was er meint: die Scherenbewegung.

Die Täter machen im übrigen keine klassenspezifischen Unterschiede. „Das geht quer durch die Gesellschaft.“ Der „Beschmutzertrick“ ist vor allem für Banker und Geschäftsleute in der Mittagspause bestimmt. Die Taschendiebe kaufen sich eine Currywurst oder eine Portion Fritten für auf die Hand mit viel Ketchup und Mayonnaise und rennen, weil scheinbar in ein Gespräch vertieft, dem Anzugmann voll ins Geschirr. Die Sauerei ist groß, aber mit vereinten Kräften wird gereinigt. Keine Frage, was am Ende in der Innentasche des Sakkos fehlt. Christoph Oellers