Flecken im Urwald

Ein Labyrinth von Wasseradern, dichter Wald, ein Brummen, Quaken, Zirpen und das Geräusch der Ölfördertürme inmitten satter Natur: Eine Fahrt auf dem ecuadorianischen Rio Napo  ■ Von Claudia Biehan

Die Salados, die Salzflecken, wollen wir finden. Die Flecken im Urwald, wo sich Tausende von Papageien treffen, um Mineralien abzuknabbern. Ein Wahnsinnsspektakel sei das, hat uns John, der britische Hobbyornithologe, vor der Abreise nach Ecuador vorgeschwärmt: „Kreischende Papageien in allen Größen und Farben. Den Anblick vergeßt ihr nie!“ Drei Tage lang sind wir die Amazonas, die Hauptgeschäftsstraße Quitos, rauf- und runtergegangen, haben jeden Veranstalter abgeklappert, aber alle haben uns nur fragend angesehen: „Salados? Kennen wir nicht.“ Wir werden es also auf eigene Faust probieren, uns im Urwald einen Führer suchen.

Mishualli (sprich: Mishuajiii), etwa 200 Kilometer Schotterpiste und 2.400 Höhenmeter von Quito entfernt, war früher ein Missionsstädtchen. Heute lebt der kleine Ort am Rio Napo zum großen Teil von den Touristen, die von hier aus ihre Trips in den Dschungel buchen. Ein paar einfache Hotels und Pensionen, eine Handvoll verfallener Häuser, die sich um einen großen Platz gruppieren, mehr hat Mishualli nicht zu bieten. Die Post von hier nach Quito soll ein bis zwei Monate brauchen. Kaum ein Mensch läßt sich sehen, als wir, zentimeterdick mit Staub bedeckt, vom Dach des Busses springen. Kein Wunder: Es ist später Nachmittag, Badezeit. Der ganze Ort steht eingeseift, lachend und schwatzend im Rio Napo. Wir stürzen hinterher. Der Rio Napo ist einer der größten Ströme in Ecuador. Bei der peruanischen Stadt Iquitos trifft er sich mit dem Rio Marañón und heißt von da an Amazonas. Theoretisch könnte man von Mishualli aus gut stromabwärts bis zur Mündung des Amazonas in Brasilien fahren. Praktisch geht das nicht, weil die Grenze nach Peru geschlossen ist. Peru hat sich 1941 ein 175.000 Quadratkilometer großes Gebiet ecuadorianischen Amazonasurwaldes einverleibt, mehr als ein Drittel des ecuadorianischen Staatsgebiets. Seither ist das Verhältnis zwischen beiden Ländern äußerst gespannt.

Trockenzeit im nördlichen Oriente

Ecuador erkennt den Abtretungsvertrag nicht an, den das Land auf Druck der USA und anderer Länder 1942 schließen mußte. Zuletzt im Frühjahr dieses Jahres entluden sich die Spannungen an der südöstlichen Grenze Ecuadors in einem Dschungelkrieg, der auf Vermittlung der lateinamerikanischen Staaten allerdings schnell beigelegt wurde.

Auf dem Rio Napo wollen wir also stromabwärts bis zum Parque Nacional Yasuni fahren. Dort, in der Nähe der luxuriösen La-Selva- Dschungel-Lodge, sollen die Salzflecken sein, hat John der Brite gesagt. Wir müssen nur noch einen Führer finden.

Am nächsten Morgen haben wir ihn: Edwin heißt er. Er will uns in die Lagunas de Pañacocha führen, ein Ausdruck der Quechua-Indianer für Piranha-See. „Die Salzflecken müssen da irgendwo sein“, sagt er. „Zur Sicherheit nehmen wir Guillermo mit. Er kennt die Gegend besser als ich.“ Guillermo ist der Besitzer der Hütte, in der wir übernachten werden.

Edwin braucht einen Tag, um Ausrüstung und Verpflegung für sich, vier Touristen (drei Deutsche, ein Schweizer) plus Küchenjunge Francisco plus Bootsmann José nebst Ehefrau Margarita zusammenzutragen. Dann geht's los. Fünf Tage wollen wir wegbleiben, jeweils ein Tag geht für die Hin- und Rückfahrt drauf. Die Sonne knallt ins Boot, kein Wölkchen steht am Himmel. Wir schützen uns mit Sonnenschutzcreme Faktor 15, Regenschirmen und Handtüchern notdürftig gegen einen Sonnenstich. Es ist Trockenzeit im nördlichen Oriente. Die ganze Tour über werden wir keinen Regentropfen abbekommen, und das ist schon ungewöhnlich. Noch jeder Ausflügler in den Regenwald, den wir in Quito getroffen haben, hat davon erzählt, wie er sich tapfer pitschnaß durch den Wald gekämpft habe. Wir werden zuwenig Wasser haben, wie sich ziemlich bald herausstellt: Große Sandbänke teilen den Rio Napo, José muß Schlangenlinien fahren. Das kostet Zeit. Als die Sonne in bläßlichen Farben im Strom versinkt, sind wir erst auf der Höhe der katholischen Mission Pompeya, zwei Stunden von unserem Übernachtungsort entfernt.

Edwin läßt auf die nächstbeste Rodung am Flußufer zusteuern. Quechua wohnen hier: Señor Rotando Coquinche, seine Frau und drei Kinder im Alter von fünf bis fünfzehn Jahren. Die Familie hat eine kleine Finca, eine Farm mit einem bunten Allerlei aus Gemüse, Bananen, Kaffee, Kakao. Der gesamte Uferstreifen des Rio Napo ist besiedelt, überwiegend von Quechua und Shuar-Indios. Die beiden Völker sind die zahlenmäßig stärksten im ecuadorianischen Amazonasgebiet. Außer ihnen leben hier noch die Achuar, die Huaorani, die Siona-Secoya und die Cofan. Die Quechua sind mit dem gleichnamigen Volk im Hochland verwandt. Wahrscheinlich sind sie im 16. Jahrhundert vor den Spaniern ins Tiefland geflohen.

Edwin muß Señor Coquinche nicht lange überreden, wir dürfen über Nacht bleiben. Das Haus der Familie besteht aus einem einzigen Raum und einer Art Veranda, wo sich das meiste Leben abspielt. Da werden wir schlafen. Unser Überfall macht uns ein schlechtes Gewissen, aber zumindest die Kinder verfolgen mit Interesse das Programm, das wir unter Edwins Anleitung abspulen: die Vorräte aus dem Boot holen, Moskitonetze aus Bettlaken konstruieren und an den Holzbalken aufhängen, Holz suchen, Essen kochen. Die Familie hat sich um die Veranda gruppiert und schaut zu, wie wir mit der Taschenlampe im Mund versuchen, unser Nachtlager aufzubauen. Elektrisches Licht gibt's nicht.

Erdöl – wichtigstes Exportprodukt

Als wir endlich zur Ruhe kommen, bemerken wir das durchdringende Brummen, das Quaken der Frösche, das Zirpen der Grillen und ein unbekanntes Geräusch, das all die anderen Geräusche des Waldes übertönt: „Das sind die Ölfördertürme von Oxi“, erklärt Señor Coquinche. „Oxi“ muß die volkstümliche Abkürzung für den Ölkonzern Texaco sein. Seit 23 Jahren fördern amerikanische Konzerne Öl im ecuadorianischen Urwald. Auf dem Weg hierhin haben wir einige Fördertürme gesehen. Den, der jetzt so brummt, allerdings nicht. Er steht auf der anderen Seite des Flusses.

Wenn wir bisher noch geglaubt haben, wir könnten auf unserer Tour in ein einigermaßen unberührtes Stück Urwald gelangen – abseits von Menschen und Ölförderung –, so macht Edwin jetzt jede Hoffnung kaputt: Auf einer Karte zeigt er uns, daß fast das gesamte ecuadorianische Amazonasgebiet in Erschließungsgebiete zur Erdölförderung aufgeteilt ist. Selbst in geschützten Gebieten, wie dem Parque Nacional Yasuni, an dessen Grenze die Lagunas de Pañacocha liegen, wird Öl gefördert, und das ohne jegliche Umweltauflagen. Die Konzerne leiten täglich Millionen Liter von Öl und Chemikalien in ein Stromgebiet, das zum großen Teil den Amazonas speist. Die 500 Kilometer lange Pipeline vom Oriente über die Anden an die Pazifikküste ist mindestens 27mal gebrochen. Seither ist mehr als doppelt soviel Öl ausgelaufen, wie die „Exxon Valdez“ vor Alaska verloren hat.

Erdöl ist das Exportprodukt Nummer eins, der Oriente die wichtigste Wirtschaftsregion des Landes, dafür nimmt die Regierung in Quito die Vergiftung von Menschen und einer der artenreichsten Regionen der Erde in Kauf. „Doch es gibt hier Menschen, die sich heftig wehren“, sagt Edwin mit Respekt in der Stimme. „Die Huaorani.“ Von ihrem Überlebenskampf haben wir auch schon gehört. Das kleine, wahrscheinlich nicht mehr als 1.000 Köpfe zählende Volk hat seit Menschengedenken allen Invasoren die Zähne gezeigt: den Inkas, den Spaniern, den neuen Siedlern, die mit den Erdölfirmen in den Dschungel kamen und immer tiefer in ihn vordringen. „Die Huaorani attackieren beinahe täglich die Ölarbeiter, und sie haben zwei katholische Missionare umgebracht. Die beiden standen im Verdacht, für eine Ölfirma zu arbeiten. Aber“, schüttelt Edwin den Kopf, „geholfen hat ihnen das nichts. Die Förderung geht weiter.“ Was, fragen wir uns jetzt, werden wir wohl in den Lagunas zu sehen bekommen? Nichts oder, schlimmer, Ölteppiche?

Wenn die Zivilisation auch hier schon ihre Schäden hinterlassen hat, so merken wir jedenfalls nichts: Nach zwei Stunden im Zickzack über den breiten, sonnenüberfluteten Rio Napo sind wir am nächsten Tag endlich am Ziel, und unsere Begeisterung wächst minütlich: Wir tauchen ein in ein verwirrendes System verschlungener Wasseradern, beschattet vom Wald, der hoch über unseren Köpfen wieder zusammenstößt. Umgestürzte, von der letzten Regenzeit fortgespülte Bäume strecken ihre Äste aus dem Wasser. José muß den Motor immer wieder abstellen und flink aus dem Waser ziehen, bevor das Treibgut die Motorblätter zerstört. Dann muß Francisco raus und schieben. An manchen Stellen reicht ihm das sattbraune

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Wasser nur bis an die Knie, die Uferlinie liegt gut einen Meter höher. Edwin wiegt sorgenvoll den Kopf, und wir wissen, was er denkt: Viel später darf man nicht mehr kommen, sonst bleibt das schwere Motorkanu stecken.

Es zirpt, zwitschert, krächzt und gluckst in ohrenbetäubender Lautstärke. Grüne Loras, eine Papageienart, sausen im Tiefflug vorbei zu einem Baum, wo schon Hunderte andere sitzen und Krach machen. In den Baumkronen erkennen wir die Umrisse von Tukanen und Aras. Weiter unten, auf Augenhöhe, sitzen Vögel, die wie Fasane aussehen. Gelbschwarze Vögel mit dem Namen Oropendulo sind emsig dabei, tropfenförmige Nester in den Bäumen zu bauen. Sie hängen wie kleine Überraschungspakete von den Ästen herab. Schildkröten verschwinden blitzschnell im Wasser, Schleifspuren im Uferschlamm zeigen, wo kurz vorher noch Kaimane lagen. Fische springen, nach Sauerstoff schnappend, aus dem Wasser – und einer mit zwei scharfen Hauern, El Perro, der Hund, landet direkt auf meinen Füßen. Francisco reibt sich die Hände: So schnell fängt man in Mishualli keine Fische mehr.

Kurze Zeit später liegt El Perro blutig zerschnitten im Kanu. Er wird unser Köder sein, für die Piranhas, die es hier in Massen geben soll. Ruckzuck hat Edwin aus ein paar Ästen und ein bißchen Nylon eine Angel für jeden gebastelt. Die Herren im Boot überfällt Jagdfieber, und tatsächlich: Die Tierchen beißen wie verrückt. So groß wie eine Handfläche sind die kleinsten – ich habe sie mir kleiner vorgestellt und nicht so wunderschön bunt schillernd. Einer nach dem andern landet im Boot. „Vorsicht!“ ruft Edwin. „Die schnappen noch zu, selbst wenn sie so gut wie tot sind.“ Zur Demonstration hält er einem, der schon lange mit keiner Flosse mehr zuckte, mein hartes Sonnenbrillenetui ins Maul. Und tatsächlich: Schnapp-klapp verbeißt sich das Raubtier in das Etui. Er wird später über dem Feuer getrocknet und als Beute des Bootsmannes nach Mishualli gebracht werden. Nach dieser Aktion hat keiner mehr so recht Lust zu baden, obwohl eine dicke Schicht aus Schweiß, Sonnencreme und literweise Insektenschutz jede Pore auf der Haut verklebt. Die Tour ist wirklich so „basic“, wie Edwin uns angekündigt hat: Unsere „Hütte“ ist ein Holzboden mit einem Holzdach. Das Ganze auf Stelzen, in einer Lichtung im Wald. Zu erreichen vom Wasser her nur mit Gummistiefeln durch ein Meer aus Schlamm, das gespickt ist mit den herabgefallenen, fünf Zentimter langen Stacheln des Chontillobaumes. Es gibt keine Schlaf-, keine Sitzgelegenheit, nicht mal eine Hängematte, nur ein stinkendes Plumpsklo. Dort findet Edwin eine kleine schwarze, dickbehaarte Tarantel. „Ihr Biß ist ungefährlich“, sagt er. „Nur die größere Art kann einen vergiften.“ Wie beruhigend! Es ist eine kräftezehrende, menschenfeindliche Welt, in die wir eintauchen.

Orientierungslos im Labyrinth

Ohne Edwin wären wir ziemlich aufgeschmissen: Die Wasserwege sehen für uns alle gleich aus, sie wirken wie ein Labyrinth. Und im dämmrigen Wald ist eine Orientierung erst recht nicht möglich: Entfernt man sich nur ein paar Schritte von den anderen, hört man die Stimmen nicht mehr, ist es vorbei. Folgsam bleiben wir also Edwin dicht auf den Fersen, wenn er uns durch den Wald führt und dabei sein Wissen auspackt: über die Pflanzen, die die Indianer traditionell als Heilmittel nutzen, über deren Kulturen, über eßbare und nichteßbare Früchte, über die Tiere des Waldes. Doch was diese Tour so unauslöschlich im Gedächtnis festbrennt, sind nicht die Wanderungen, nicht die Kanutouren, nicht die Erzählungen über den Wald und seine Bewohner. Es sind die Geräusche, die der Wald bei Nacht von sich gibt, die mich nicht schlafen lassen. Geräusche, die der Phantasie freies Spiel lassen: Es gluckst, quakt, zirpt, zwitschert und grunzt, mal weit weg, mal unmittelbar an der Hütte. Ist es ein Tapir, der da gerade durch das Unterholz bricht? Oder ein Wildschwein? Stammen die Ächzer vielleicht von einem Puma? Oder ist es nur ein Baum?

Nur ein Geräusch hat einen festen Termin, und wir wissen, wer es macht: In der Morgen- und in der Abenddämmerung heult es in einiger Entfernung vom Camp, wie wenn ein Schneesturm durch Alaska tobt. Es sind Brüllaffen auf Wanderschaft. Ihr Schrei, aus der Nähe gehört, würde einen wahrscheinlich tot umfallen lassen. Wir bekommen sie leider nicht zu Gesicht, obwohl wir etliche Male die Stelle aufsuchen, an der sie täglich vorbeikommen. Um im Wald Säugetiere zu sehen, muß man schon großes Glück haben, schreibt der Reiseführer. Das haben wir nicht. Wir suchen die Salzflecken, paddeln stundenlang in einer Lagune, die kaum noch Wasser führt. An manchen Stellen ist das Wasser keine zehn Zentimeter mehr tief. Schließlich bleiben wir stecken und müssen zu Fuß weiter: Doch die Salzflecken sind ausgetrocknet, kein Vogel ist zu sehen.

Zwei Tage später kann ich die braune Schlammkruste von der Haut waschen, in einem weichen Bett schlafen und sauberes Wasser trinken. In der Zeitung lese ich, daß gerade ein neues Ölfeld im Oriente angestochen wurde. Es sieht vielversprechend aus, steht in der Zeitung. Ich habe plötzlich das Gefühl, daß wir gerade noch rechtzeitig auf der Suche nach den Salzflecken waren. Auch wenn wir sie nicht gefunden haben.