Stadt kurzer Wege

Autofreies Wohnen kommt über seine Modellhaftigkeit kaum hinaus. 40 Millionen Autos zugelassen  ■ Von Andrea Meyer

Der Konflikt ist bekannt: Sobald Umweltinitiativen versuchen, gegen den Autoverkehr auf einer städtischen Straße vorzugehen, treten Industrie- und Handelskammern in Aktion. Sie argumentieren, daß der Einzelhandel Umsatzeinbrüche zu verzeichnen hätte, wenn verkehrsberuhigt würde.

Der Grundstein für diesen täglich neuen Streit wurde mit der Charta von Athen gelegt. In ihr wurde 1933 die räumliche Trennung von Wohnen und Arbeiten als Leitlinie für die Stadtentwicklung festgelegt. Der Beschluß gilt heute als der Beginn des Konfliktes zwischen (Auto-)Verkehr und Bewohnbarkeit des Lebensraumes Stadt. Und je länger die Wege zwischen Wohnort und Arbeitsplatz wurden, desto häufiger wurden sie per Auto zurückgelegt.

Die Zahl der Pkws in der Bundesrepublik wuchs von Jahr zu Jahr. Betrug sie 1960 noch 8 Millionen, so war sie 1990 auf knapp 36 Millionen angewachsen. Kürzlich wurde gemeldet, daß jetzt gar 40 Millionen Autos zugelassen sind. Parallel dazu wurde mit dem Slogan „Freie Fahrt für freie Bürger“ der Eindruck erweckt, daß jemand um so mobiler und damit um so moderner und fortschrittlicher sei, je weiter und schneller er oder sie fahren könne und je größer sein oder ihr Auto sei. Wer sich kein Auto leisten konnte oder wollte, galt als nicht gesellschaftsfähig.

Die Probleme, die sich aus dieser Autolawine unter anderem auch für die Städte ergaben, wurden lange Zeit ignoriert oder banalisiert. Wenn es zu Verkehrsstaus kam, wurden Straßen verbreitert und mehr Parkplätze gebaut.

Mittlerweile wehren sich jedoch immer mehr Menschen dagegen, daß die Bedingungen für Autos optimiert werden, während sie selbst und ihre Kinder an den Rand gedrängt werden. Die meisten dieser Vorstöße haben als gemeinsames Ziel die Verkehrsvermeidung und die Bevorzugung umweltfreundlicher Verkehrsmittel vor dem Individualverkehr. Außerdem sollen die Stadtstrukturen langfristig so verändert werden, daß häufig zurückgelegte Strecken, zur Arbeit oder zum Einkaufen, möglichst kurz sind.

In einer solchen Stadt der kurzen Wege können alle Einwohner fast alles bequem zu Fuß erreichen: Lebensmittelläden, einen Markt, Geschäfte des alltäglichen Bedarfs. Außerdem gibt es Treffpunkte, Cafés und Spielplätze. Natürlich sind Schulen und Kindergärten ebenfalls in diesem Umkreis angesiedelt. Eine praktische Ärztin ist hier ebenso zu finden wie eine Außenstelle der Gemeindeverwaltung. In Fahrradentfernung – hier verkehren auch Straßenbahnen und Kleinbusse – gibt es Fachgeschäfte, außerdem Praxen von Fachärzten, vielleicht ein Einkaufszentrum, ein Kino, eine Bank, ein Polizeirevier, das Postamt, Mehrzwecksäle zum Beispiel für Theateraufführungen. Wer ein anderes Zentrum anfahren will, benutzt die im Taktverkehr fahrenden Züge. Das ist kein Problem, da jedes Zentrum einen Bahnhof hat, der Tag und Nacht angefahren wird. Von den Zentralbahnhöfen schließlich fahren die Fernzüge ab, die alle Oberzentren des Landes miteinander verbinden. Das Konzept der Stadt der kurzen Wege ist bisher noch nirgends verwirklicht. Allerdings gibt es Ansätze dazu.

So wurde in der niederländischen Kleinstadt Houten nahe Utrecht die freie Durchfahrt für das Auto abgeschafft. Zwar dürfen in den einzelnen Stadtvierteln Autos fahren. Wer jedoch per Auto von einem Viertel in ein anderes will, muß zunächst die Stadt verlassen, um auf der Umgehungsstraße in das andere Quartier zu gelangen. Für Fahrrad, Fußgänger und Bus hingegen ist der direkte Weg offen. Ziel ist es, daß jeder innerstädtische Weg per Fahrrad doppelt so schnell zurückgelegt werden kann wie mit dem Auto. Im Zentrum der Stadt liegt der Bahnhof, von dem aus viertelstündlich gutgenutzte Züge nach Utrecht fahren.

Auch in Deutschland gibt es lobenswerte Projekte. So wechseln sich Münster und Erlangen ab, wenn es darum geht, welches die fahrradfreundlichste Stadt ist. Bei autofreien Innenstädten dienen Aachen und Lübeck als Vorbild. Das Vorzeigeprojekt für „autofreies Wohnen“ wird in Bremen gebaut. Ansätze gibt es also genug. Allein: Sie harren ihrer Umsetzung über das Modellprojekt hinaus. Und nur viele Ansätze gemeinsam können tatsächlich zur Verbesserung der Lebensqualität in der Stadt führen. Denn die Stadt wird erst dann wieder lebendig, wenn auf allen Straßen Kinder spielen können. Andrea Meyer

Kontakt: Robin Wood Bremen, Langemarckstr. 210, 28199 Bremen, Tel. (0421) 598288