Kein Rekord für Remarque

■ Für 620.000 Mark wurde das Manuskript des Antikriegsromans "Im Westen nichts Neues" versteigert. Es kommt nach Deutschland Von Jürgen Berger

Kein Rekord für Remarque

Sotheby's hat sich verschätzt. Als das Londoner Auktionshaus Anfang November die bevorstehende Versteigerung der letzten Fassung des Manuskript von Erich Maria Remarques klassischem Antikriegsroman „Im Westen nichts Neues“ bekanntgab, setzte es einen Wert von rund 675.000 bis 790.000 Mark an. Das war zu hoch gegriffen. Als gestern mittag der Hammer fiel, kostete die Handschrift immerhin noch 276.500 Pfund (622.125 Mark).

Das 120seitige Konvolut kommt nach Deutschland. Es wurde, so die offizielle Sprachregelung, „für Deutschland, Niedersachsen und Osnabrück unter Koordination des Ministeriums für Wissenschaft und Kunst des Landes Niedersachsen mit Mitteln von privaten Geldgebern“ erworben. Wohin die Neuerwerbung genau wandert, kann nur vermutet werden. Die Spender wollen den endgültigen Bestimmungsort der Schrift noch bekanntgeben. Im Erich-Maria- Remarque-Archiv in Osnabrück ist man vorerst zumindest schon „hochzufrieden“, daß sie nicht in einem Privattresor verschwindet, sondern der Öffentlichkeit erhalten bleibt. Remarques Manuskript war bislang noch nie zugänglich. Es muß aus dem Besitz seiner ersten Ehefrau, der Tänzerin und Schauspielerin Ilse Jutta Zambona, irgendwann in die Hände desjenigen gelangt sein, der es Sotheby's anbot. Er bestand, wie in solchen Fällen üblich, auf Anonymität.

Das seit einigen Jahren boomende Geschäft mit Handschriften ist lukrativ und tückisch. Sotheby's hatte einen Grund für den überhöhten Schätzpreis: Bei einem Objekt in dieser Größenordnung ist die Zahl der Interessenten klein. Institutionen sprechen sich ab, um nicht zu Konkurrenten zu werden. Falls nicht ein Privatsammler mitbietet, sind keine Wettkämpfe zu erwarten, die den Preis in jene schwindelerregenden Höhen treiben, die im Handschriftenhandel erzielt werden können. Viele Sammler, die vor Jahren noch auf Chagall und Picasso setzten, legen inzwischen ihr Geld in Mozart- Briefen und Kleist-Billets an. 1988, als das Manuskript von Kafkas „Prozeß“ vom Deutschen Literaturarchiv für mehr als drei Millionen Mark ersteigert wurde, erreichte die Preisspirale einen vorläufigen Höhepunkt. Zum Vergleich: Joseph Roths „Hiob“-Manuskript kostete Anfang der 80er Jahre noch 45.000 Mark, Else Lasker-Schülers letzter Gedichtband „Mein blaues Klavier“ wechselte kurz zuvor für nicht einmal 10.000 Mark den Besitzer. Glücklich sind die Wissenschaftler jetzt, daß kein Privatmann das Manuskript im heimischen Reliquienschrein endlagert oder mit ihm spekuliert. Das nämlich ist ein Alptraum für Forscher wie Roland Reuß, der die erste kritische Kleist- und, seit neuestem, auch die Frankfurter Kafka- Ausgabe herausgibt. „Ich stehe immer wieder vor dem Problem, an Originalhandschriften heranzukommen, und es ist für mich angenehmer, mit öffentlichen Bibliotheken umzugehen, als von Gunst oder Mißgunst privater Eigentümer abzuhängen.“ Dabei geht es nicht nur um Sammler. Es gibt ja auch noch die berüchtigten Witwen der Literaturgeschichte, die jeder umgarnen muß, der einen kurzen Blick auf eine Handschrift werfen will.