Tägliche Gewalt statt nächtliche Hilfe

■ CDU-Politiker Nölle und Borttscheller brechen ihre Zusage, den Drogenstrich zu legalisieren

Da muß was getan werden, schimpften Ulrich Nölle und Ralf Borttscheller, als sie bei einem Zug durchs Viertel im Juli 1994 am Ziegenmarkt auf drei Drogenprostituierte trafen. Deren Anblick, abgemagert und mit verbundenen Handgelenken, dauerte die beiden CDU-Spitzenvertreter. Besonders Ralf Borttscheller, Vater von zwei Töchtern, wie er mehrfach betonte, schauderte es.

So nah dran am Geschehen, sahen beide Politiker ein, daß die im November 92 vom Senat beschlossene Zerschlagung des Drogenstrichs nur auf dem Papier gelungen war. Stante pede zogen sie Schlüsse aus ihrer Erkenntnis: Sie forderten einmütig, den Drogenstrich zu verlegen und wieder zu legalisieren, und gleichzeitig für eine Betreuung der Frauen zu sorgen.

Heute ist Ulrich Nölle Finanzsenator, Ralf Borttscheller stieg zum Innensenator auf. Die drogensüchtigen Frauen warten derweil noch immer am Ziegenmarkt und in der Humboldtstraße auf ihr Betreuungsangebot, das der Senat 1992 zusammengestrichen hatte: Der Drogenbus war aus der Friesenstraße abgezogen worden, das nächtliche Beratungs- und Hilfsangebot in der Schmidtstraße 5 mußte dem „Ergänzenden Methadonprogramm“ (EMP) weichen.

Das EMP kann mit 40 Frauen nur etwa zwei Drittel aller Beschaffungsprostituierten aufnehmen. Zwanzig Frauen rangeln sich um die Warteliste oder weigern sich, auf Methadon umzusteigen. Für die gibt es, abgesehen von wöchentlich zwei mal vier Beratungsstunden im Kontaktladen Weberstraße, keinerlei Hilfe mehr. Doch auch die EMP-Frauen vermissen insbesondere ein nächtliches Betreuungsangebot, ergab eine Umfrage des Vereins für akzeptierende Drogenarbeit.

Stattdessen werden die Frauen seit 1992 mit kontinuierlichen Polizeirazzien konfrontiert. Die dabei ausgestellten Bußgelder zwingen die Frauen, noch häufiger „auf den Acker“ zu gehen. Um nicht erwischt zu werden, fahren sie mit den Freiern raus an den Stadtrand. Dort aber sind die Frauen schutzlos der Willkür und Gewalt ausgesetzt. „Da wirst du abgesetzt, der Typ klaut dir die Kohle, und am Schluß kriegst du noch eins auf die Fresse“, sagt Birgit (alle Namen geändert). Auch Moni und Lisa haben einschlägige Erlebnisse. Nachdem sie zunächst abwinken, räumen alle ein, mehrfach vergewaltigt worden zu sein. Sie wurden zusammengeschlagen, bestohlen, mit dem Tode bedroht. „Da draußen hört dich doch keiner, wenn du um Hilfe schreist“, sagt Moni.

Sie ist froh, im EMP-Programm zu sein und dadurch nicht mehr so oft auf den Strich zu müssen. Das Kokain hat dort auch die Preise ruiniert. Vor zehn Jahren, schimpft Moni, stand noch fest: „Französisch kostet 70 Mark, Ficken 100, die ganze Nacht 300.“ Heute gibt es solche Absprachen unter den Frauen nicht mehr. Wer unbedingt Geld braucht, geht auch für 30 Mark oder eine Kokskugel mit.

Koks ist beliebt, obwohl es teurer ist als Heroin und nur eine kurze Wirkungszeit hat. Etwa 500 Mark täglich muß eine kokssüchtige Prostituierte ranschaffen, bei Heroin reichen 200 bis 300 Mark. Angesichts dieser Preise sind die drogensüchtigen Frauen oft gezwungen, „den Affen zu schieben“. Höllische Schmerzen signalisieren ihnen die ersten Entzugserscheinungen – ein Zustand, sagen die Frauen, der die Freier offensichtlich besonders aufgeilt. Die Männer wissen, daß sie dann von den Frauen so ziemlich alles kriegen können.

„Wenn du auf dem Affen bist, machst du alles“, sagt Moni, und erwähnt einen Freier, der sie mit der Aussicht auf 200 Mark ins exklusivst ausgestattete Eigenheim lockte. Dort wollte er ihr Gewichte an die Venuslippen hängen, doch Moni entkam.

Auch die anderen Frauen haben Beispiele parat, die belegen, daß die aus allen Gesellschaftsschichten stammenden Freier die Drogensucht der Frauen skrupellos ausnutzen, um besondere Perversionen auszuleben. Ungeachtet der Aidsgefahr setzen dabei fast alle Männer die Frauen unter Druck, den Verkehr ohne Gummi durchzuführen. „Das könnten die nebenan im Puff nicht machen, darum wollen die Typen lieber uns.“

„Linke Freier“ steht über der Pinnwand des EMP-Aufenthaltsraumes in der Schmidtstraße 5. Auf Zetteln stehen die Beschreibungen von Männern, die gestohlen, geschlagen oder vergewaltigt haben. Eine Anzeige müssen die Täter seit dem Senatsbeschluß kaum noch befürchten. Die meisten Frauen lehnen es ab, zur Polizei zu gehen, müssen sie doch selbst mit einer Anzeige rechnen, weil sie der illegalen Prostitution nachgegangen sind.

Das muß sich ändern, sagen sie. Sie fordern daher eine Legalisierung der Prostitution und eine Betreuung, die ihnen auch nachts Schutz gewährt. dah