Bier, Love Seats und tote Katzen

„Zapfstätten billigster Genüsse“: Eine kleine Geschichte der Filmtheater in Europa  ■ Von Karl Wegmann

Die Sensation war am 27. Oktober 1895 in der Berliner National-Zeitung erwartungsfroh angekündigt worden: „Im Wintergarten werden bereits die umfassenden Vorbereitungen für ein glänzendes November-Programm getroffen. Besondere Heiterkeit dürften darin Mr. Thompsons fünf dressierte Elephanten erregen, die auf der Bühne eine regelrechte vollständige Kegelpartie absolvieren. Auch Skladanowskys Bioskop ist nahezu vollendet. Dasselbe wird einen ausnehmend originellen Charakter dadurch erhalten, daß es die Wintergarten-Produktion selbst in verblüffend echten lebensgroßen Kopien wiedergibt.“

Mr. Thompsons kegelnde Dickhäuter waren schnell vergessen, die Filmvorführung der Gebrüder Max und Emil Skladanowsky jedoch, schon damals als „die interessanteste Erfindung der Neuzeit“ bejubelt, ist in die Geschichte eingegangen.

Das erste Kino (ohne Elefanten) dagegen war das Cinématographe Lumière im Salon Indien, einer ehemaligen Billiardhalle im Grand Café in Paris. Am 28. Dezember 1895 war Eröffnung. Inhaber der Lichtspielschau: Auguste und Louise Lumière, die Pioniere der Kinematographie, aus deren Filmen das Programm bestand. Die Kasseneinnahmen am Eröffnungstag waren mager. Nur 35 Leute hatten einen Franc gewagt, um sich die neuartige Unterhaltung anzusehen. Das deckte knapp die Miete von 30 Franc pro Tag, und der Eigentümer des Grand Café, Monsieur Borgo, war zweifellos froh, daß er das Angebot, ihm statt der Miete 20 Prozent der Einnahmen zu zahlen, abgelehnt hatte. Doch schon kurz darauf bereute er diese Entscheidung. Das Cinématographe Lumière wurde die Sensation von Paris, Einnahmen von 2.500 Franc pro Tag waren keine Seltenheit.

In den folgenden Jahren waren Filmvorführungen in Europa vor allem eine Jahrmarktsattraktion. In Buden und windigen Zelten wurden kurze, primitive Filmstreifen gezeigt. Dann gaben auch die Gastwirte ihre feindliche Haltung gegenüber der vermeintlichen Konkurrenz auf und holten die Kinematographen in ihre Säle.

Für Berlin spezifisch waren noch die Gartenkinos. Dem Interesse der Brauereien und Berliner Wirte an Film und Bier hat das Wort Kintopp (auch: Kintop oder Kientopp) seinen Ursprung zu verdanken. „Es war die schöne Zeit der seligen ,Vierzehnteltöppe‘“, berichtete die Lichtbild-Bühne am 24. Mai 1923, „allwo man vier Zehntel Liter Friedensbier für einen Groschen bekam. Und für ebensolchen Groschen gab es in jener märchenfernen Zeit noch einen anderen ,geistigen‘ Genuß, nicht minder beliebt und nicht minder ausgiebig, und das war das ,Kinematographen-Theater lebender Photografien‘. Natürlich war das für den fixen Berliner ein viel zu langes, unaussprechbares Wortgebilde. Was lag näher für ihn, als der Vergleich der beiden Zapfstätten billigster Genüsse: hier ,Vierzehnteltopp‘, hier ,Kintopp‘!“

Kurt Tucholsky, immer auf der Suche nach erotischen Filmen, liefert in der Schaubühne (9/1913) ein weiteres schönes Stimmungsbild: „Eine schwüle Sinnlichkeit wehte von den verdorbenen, also üppigen Gestalten herüber, sie gaben sich den unerhörtesten Genüssen hin – aber während wir Gelegenheit hatten, diese Raffinements zu bewundern, bot eine Kellnerstimme gefällig Bier an. Worauf mit Recht aus dem Dunkel ein tiefer Raucherbaß ertönte: ,Ach, wer braucht denn hier jetzt Bier!‘ Das wurde lebhaft applaudiert, und von nun an beteiligte sich das Publikum intensiver an den Darbietungen: Rufe, ratende Stimmen, Grunzen, Beifall und anfeuernde Aufschreie wurden laut, einer gab vergleichende Privatfreuden zum Besten, viele lärmten und schrien.“

Der Siegeszug des Kinos war auch in Europa nicht mehr aufzuhalten. Jetzt wurden auch immer mehr reine Filmtheater gebaut. Schon 1914 existierten auf der Welt mehr als 60.000 ständige Kinos. Allein in Deutschland hatte sich die Anzahl der Kinos auf über 2.000 kurzfristig verdoppelt und sie zu einem bedeutenden wirtschaftlichen und kulturellen Faktor gemacht. Das erste Kino, das speziell zu diesem Zweck gebaut wurde, stand jedoch wieder in Paris. Es war das Cinéma Omnia Pathe auf dem Boulevard Montmartre, das am 1. Dezember 1906 mit „Der Gehenkte“ eröffnete. Dieses erste „Luxuskino“ der Welt war mit ansteigenden Sitzreihen ausgestattet, damit alle über die Köpfe vor sich hinweg sehen konnten. Es war im klassischen Stil eingerichtet, mit Säulen und griechischen Friesen, und die Leinwand, 6 x 4 Meter, war eine der größten, die je in ein Kino dieser Zeit eingebaut wurde.

An den Inneneinrichtungen hat sich bis heute nicht allzu viel geändert. Wohl aber versuchten in Amerika wie auch in Europa Kinobesitzer, die Zuschauer mit immer neuen Serviceangeboten zu locken. So gab es schon 1907 in italienischen Kinos üblicherweise einen Leseraum, wo aktuelle Zeitungen und Zeitschriften auslagen. Freilichtkinos sind in Mittelmeerländern üblich, aber bis vor kurzem bot das Orient in Barcelona den besonderen Vorzug eines Daches, das im Sommer geöffnet werden konnte – was den Kindern einen neuen Sport bescherte: Sie warfen mit Vorliebe tote Katzen im hohen Bogen über die Mauer.

Rauchen war in vielen europäischen Kinos schon immer erlaubt, Eis zu lutschen auch, Bier zu trinken sowieso. Und jetzt kommt auch noch das, was immer schon gefehlt hat: Love Seats. Die englische Kinokette Robinson Cinema hat den Anfang gemacht. In dem Kino Prince Charles (!) im Zentrum Londons sind zwölf doppelsitzige Love Seats eingerichtet worden, die sich vor allem dadurch auszeichnen, daß die störende Armlehne fehlt. Der Kinobetreiber möchte mit den Love Seats jedoch lediglich „den Sinn fürs Romantische erhalten“. Ein Schwein, wer mehr darin treibt.