Das Recht auf die tödliche Spritze

■ Der Ruf nach Straffreiheit für Sterbehilfe wird auch in Deutschland immer lauter

Schnell und schmerzlos soll es sein. Doch das Ende des Lebens ist oft eine Qual, grausam und mit viel Leid verbunden. „Wo auch immer in Deutschland gestorben wird, von einem Sterben in Würde, einem menschenwürdigen Tod kann nur noch in Ausnahmefällen die Rede sein“, beklagt der Internist Mathias Jung in seinem Buch „Verweigertes Leben – Verweigerter Tod“. Nur vordergründig geht es jedoch dem niedergelassenen Arzt um den Ausbau der Hospizbewegung, um ein verbessertes Angebot im Bereich der Schmerztherapien. Straffreiheit für aktiv in den Sterbeprozeß eingreifende Ärzte ist sein Anliegen. Die Diskussion der Sterbehilfeproblematik sei in Deutschland längst überfällig. Das Thema, schreibt er, „darf nicht länger totgeschwiegen werden“.

Seit in den Nachbarländern, in den Niederlanden, der Schweiz, Belgien, die Sterbehilfe Schritt für Schritt weiter legalisiert wird, werden auch hier die Rufe nach einer Freigabe der Tötung auf Verlangen laut. In den rechtsmedizinischen Fachkreisen kommt das Thema immer häufiger zur Sprache, in Bioethikveranstaltungen an den Universitäten treten vermehrt Euthanasiebefürworter auf, und Prominente, wie zuletzt Walter Jens und Hans Küng, fordern lautfür sich das Recht auf einen selbstbestimmten Tod. Wenn es nicht anders geht, soll ein Arzt diese Aufgabe übernehmen dürfen.

Die gesellschaftlichen Hemmungen gegenüber der Beihilfe zur Selbsttötung bis hin zum aktiven Eingriff in das Sterbengeschehen werden immer weiter abgebaut. Unter dem Deckmantel der Autonomie des einzelnen und dem Recht der Selbstbestimmung wird eine Aufweichung der Tötungsparagraphen im Strafgesetzbuch gefordert. Der Internist Jung plädiert für eine Lösung, die sich an dem 1991 in der USA erlassenen Gesetz zur Patientenselbstbestimmung orientiert: „Bewußtseinsklare Patienten sind über ihr Entscheidungsrecht zwischen Behandlungsfortsetzung und Behandlungsabbruch aufzuklären (...) ihren Willen schriftlich zu dokumentieren und einen Vertrauten zu benennen für Situationen, in denen sie selbst nicht mehr entscheiden können“. Auch er bemüht das Selbsbestimmungsrecht der Patienten, um seine Forderung nach Straffreiheit für den Arzt mit der Todesspritze zu untermauern: „Da der Mensch sich selbst gehört, muß man ihn auch den Weg selbst wählen lassen, wie er mit der Grenzerfahrung umgeht.“

Als Vorbild dienen die Niederlande. Dort ist ist die ärztliche Sterbehilfe zwar nicht erlaubt, aber ein Arzt, der auf das ausdrückliche und wiederholte Verlangen eines todkranken Patienten, diesem die Spritze gibt, bleibt straffrei. Übersehen wird dabei allzugern, daß viele Ärzte in der täglichen Praxis noch viel weiter gehen. Euthanasie wird auch bei nicht einwilligungsfähigen, kömatösen oder altersdementen Patienten und mit schweren Behinderungen zur Welt gekommenen Neugeborenen angewandt. Mehrere hundert Meschen, die nicht ihre Zustimmung zur Euthanasie haben geben können, werden nach Schätzungen jedes Jahr in den Niederlanden getötet. Der Gesetzgeber denkt jetzt über eine gesetzliche Freigabe auch für diese Fälle nach. Daß fast zwangsläufig diese Diskussion auch nach Deutschland überschwappt, zeigt die Konferenz, zu der das Bonner Institut für Wissenschaft und Ethik am kommenden Wochende eingeladen hat. Diskutiert werden soll dort die Frage, wann bei sogenannten wachkomatösen Patienten die Geräte abgeschaltet werden sollen.

Eine fatale Mischung, wenn dann auch noch die Kosten als Argument für die Sterbehilfe herhalten müssen. „An jedem nicht geborenen Behinderten könne der deutsche Staat durchschnittlich 7,3 Millionen sparen, eingerechnet Pflegeheime, Sonderschulen etc“, schreibt Jung. „Die Folgelasten und -kosten dieser inhumanen Sterbeverzögerung werden an die Gesellschaft weitergegeben.“ Als Frage formuliert der Arzt: „Aber sollte ein so wohlhabendes Land wie Deutschland diese Summe nicht aufbringen können?“ Eine direkte Antwort darauf bleibt Jung schuldig – nicht ohne Hintergedanken: Man müsse diese Thematik personifizieren, schreibt er und wendet sich dem leidvollem Einzelschicksal zu. Erinnerungen kommen auf: Auch in dem Propagandafilm der Nazi „Ich klage an“ wird an das Mitleid appelliert, wird der Zuschauer zu dem Wunsch verführt, am liebsten selbst der tödlich Erkrankten auf der Leinwand den erlösenden Schierlingsbecher zu reichen. Gedreht im Jahre 1941 zur nachträglichen Rechtfertigung des Nazi-Euthanasieprogrammes T4, dem mehr als 150.000 Menschen zum Opfer fielen. Doch davon will Jung nichts hören. In seinen Augen ist es eine „Unerhörtheit und ein Signum geistiger Arroganz und Intoleranz, wenn bei uns bestimmte Kreise“ eine Paralelle zu dem organisierten Massenmord im Dritten Reich ziehen. „Heute geht es um Mitleid mit dem Individuum, um den Versuch, in dessen bestem Interesse zu handeln“. Wolfgang Löhr

Matthias Jung: „Verweigertes Leben – Verweigerter Tod.“ Harald Fischer Verlag, Erlangen 1995, 255 Seiten, 38 DM