Die hohe Kunst der Geldbeschaffe

Der Bund streicht der Berliner Kultur rabiat die Zuschüsse – 660 Millionen seit 1991. Theater, Museen und Opern können so nicht überleben. Nun gehen die Kulturmacher der neuen Hauptstadt selber Klinken putzen – mit Erfolg  ■ Von Petra Kohse

In der Berliner Kulturszene ist nichts mehr, wie es war. Die nackte Existenzangst geht um, und die Künstler und Kulturschaffenden brechen jedes Tabu. Sie lassen das Schöne wahr und gut sein und stellen Finanzpläne auf, sie üben sich in politischer Diplomatie und werben hemmungslos für ihre Sache. Wie unfein Politik ist, wie tief die Gräben zwischen Off- und Hochkultur – in Berlin ist das vergessen, denn vor dem Rotstift sind alle gleich.

Vierzig Jahre lang brauchte sich in Berlin niemand um Kulturfinanzierung zu kümmern. Im Osten zahlte der Staat direkt, im Westen flossen die Berlinhilfen reichlich. Das ist vorbei. Zwischen 1991 und 1994 wurden insgesamt 660 Millionen Mark aus Bonn für die Berliner Kultur gestrichen, und wie alle anderen Bundesländer müßte das mit etwa 100 Milliarden Mark hochverschuldete Berlin für seine Schauspieler, Musiker und Maler jetzt eigentlich alleine sorgen.

Einerseits. Andererseits ist Berlin nicht nur ein Bundesland, sondern auch die neue Hauptstadt. Und eine Hauptstadt hat Anspruch auf Hauptstadtkulturförderung. Doch während ein noch 1989 abgeschlossener Vertrag mit Bonn eine 70prozentige Kultursubventionierung durch den Bund bis Ende 1999 sicherstellt, ist vergleichbare Unterstützung für Berlin nicht in Aussicht.

Kärgliche 60 Millionen Mark jährlich will der Bund für die Berliner Kultur bisher bezahlen. Und auch das erst ab 1996. Damit ist noch nicht einmal der Jahresbedarf einer einzigen Oper gedeckt, und Berlin hat davon drei. Die Summe ist ein Witz und verglichen mit den 130 Millionen Mark für die Stadt Bonn gar ein Skandal. Mit der Freien Volksbühne und dem Schiller-Theater wurden in Berlin bereits zwei große Häuser privatisiert, mehr kann eine Großstadt nicht tun.

148 Millionen Mark Mindestbedarf aus Bonn hatte der SPD-nahe Berliner Kultursenator Ulrich Roloff-Momin 1994 für das damals nicht berücksichtigte Jahr 1995 in Bonn gefordert. Doch er blitzte eiskalt ab. Da hielten die Berliner Kulturschaffenden das Gerangel um ihr Geld nicht mehr aus und wurden selbst aktiv. Im September 1994 gründete sich der Rat für die Künste, in dem heute rund 150 Kulturinstitutionen organisiert sind. Das Deutsche Theater gehört ebenso dazu wie die Berliner Philharmoniker, aber auch Kunstämter, kleine Galerien und die Interessengemeinschaft der freien Tanztheater – ein in Deutschland einzigartiger, flächendeckender Schulterschluß. Nicht ohne taktisches Kalkül wurden 16 Sprecher und Sprecherinnen gewählt, die zur kulturellen Creme der Stadt zählen. Mittlerweile ist diese „geballte Berliner Kulturkompetenz“ (Staatsminister Anton Pfeifer) aus den Verhandlungen zwischen Berlin und Bonn nicht mehr wegzudenken.

Zunächst machten sich die frischgebackenen Räte daran, Bonn zu erobern. Noch im November 1994 erhielten alle Bundestagsabgeordneten eine Einladung nach Berlin, verbunden mit der Bitte: „Werden Sie unsere Frau, unser Mann in Bonn.“ Einige kamen tatsächlich und wurden dann beispielsweise von Schaubühnendirektor Jürgen Schitthelm zum Butoh-Tanz begleitet. Parallel dazu reisten die Räte nach Bonn und führten Gespräche mit den kulturpolitischen Sprechern der Bundestagsfraktionen und sogar mit dem Kanzler persönlich. „Am Anfang dachten wir, wir würden vielleicht ein halbes Jahr agieren“, sagt Charlotta Pawlowsky-Flodell, Leiterin der Amerika-Gedenkbibliothek. „Doch was durch unsere Arbeit in Gang gesetzt wurde, ist enorm.“ Mehrmals monatlich tagt der Rat in einem Gebäude der Akademie der Künste Ost am Rande des Potsdamer Platzes, der größten Baustelle Europas. Wer hier keine Visionen entwickelt, dem ist nicht zu helfen. Doch für die Kultursprecher Berlins trifft das nicht zu.

Ihr Konzept ist einfach und überzeugend. In Bonn haben sie erfahren, daß sich der Bund vor allem deswegen weigert, angemessen für die Berliner Kultur zu zahlen, weil niemand genau weiß, wohin das Geld fließen soll.

Die von Kultursenator Roloff- Momin eingereichten Unterlagen seien unzureichend gewesen, sagt Schitthelm, der vor 33 Jahren die Schaubühne mitgründete und mit Politikern aller Couleur Erfahrung hat: „In all diesen Papieren waren nur Einrichtungen aufgelistet, hinter denen Summen standen. Geld, Geld, Geld. Man mußte sich schon fragen, ob es in Berlin noch irgendeinen Buchladen gibt, der nicht mitfinanziert werden soll.“

Das ist sicher übertrieben, schließlich kursiert im Senat seit Jahren eine Liste besonders förderungswürdiger kultureller „Leuchttürme“. Aber es mag richtig sein, daß die Relevanz der einzelnen Institutionen nicht ausreichend begründet wurde. Richtig ist auch, daß sieben oder acht „Leuchttürme“ noch keine Stadtkultur ausmachen. Der „kulturelle Humus“ muß erhalten bleiben.

All das hat der Rat für die Künste sorgsam bedacht und sein Überlebensmodell auf folgenden Grundsätzen errichtet:

1. Alle Institutionen müssen zusammenhalten.

2. Für Stadtteilkultur kann der Bund nicht verantwortlich sein.

3. Deswegen wird für die Mitfinanzierung von acht ausgewählten Häusern geworben, deren „Hauptstadtrelevanz“ begründet werden kann: Staatsoper, Deutsche Oper, Deutsches Theater, Berliner Philharmoniker, Haus der Kulturen der Welt, Internationales Institut für traditionelle Musik, Hebbel- Theater, Martin-Gropius-Bau.

4. Die Bundesbeteiligung muß wie bei entsprechenden Häusern in Bonn bei 70 Prozent liegen.

5. Dieses Geld darf nicht, wie von der Berliner Kulturverwaltung gewünscht, in den defizitären Haushalt einfließen, sondern muß (siehe 1.) kleineren Einrichtungen zur Verfügung stehen.

6. Der Bundesregierung ist ein paritätisches Mitspracherecht an „ihren“ Häusern einzuräumen.

7. Ein Hauptstadt-Kulturfonds muß eingerichtet werden, an dem sich Bund und Land 70:30 Prozent beteiligen. Aus diesem Topf könnten förderungswürdige Sonderprojekte kurzfristig ermöglicht werden. Das alles klingt nach einer Menge Geld, und tatsächlich geht es dabei um rund 220 Millionen Mark. Klugerweise hat der Rat für die Künste ein Stufenmodell entwickelt, demzufolge die Hauptstadtkulturförderung erst im Jahr 2002 in voller Höhe fällig wäre. Zweifel daran, daß die Bonner sich auf ein solches Modell einlassen werden, läßt Schitthelm nicht zu. Wie seine Kollegen Thomas Langhoff vom Deutschen Theater oder Harald Jähner vom Haus der Kulturen der Welt bescheinigt er den Bonner Politikern – und insbesondere Helmut Kohl – große Offenheit gegenüber den Berliner Problemen. Warum kam der Berliner Kultursenator nie in den Genuß dieser Offenheit? „Wir gehen vorbehaltlos und ohne politisches Kalkül in die Gespräche“, sagt Schitthelm.

Umstandslos bucht es der Rat als eigenen Verhandlungserfolg, daß der Bund für das Jahr 1995 im März doch noch 30 Millionen Mark für Berliner Kultur bewilligte. „Eine lächerliche Summe“, schimpfte der Kultursenator damals, aber Schitthelm ist überzeugt, daß ohne den Rat für die Künste gar nichts gezahlt worden wäre: „Zu diesem Geld ist der Kultursenator gekommen wie die Jungfrau zum Kind.“

Auch daß diese Sondermittel zweckgebunden waren, freute den Rat. Ein Kuratorium verteilte das Geld auf die Staatsoper, die Deutsche Oper, das Deutsche Theater und das Schauspielhaus am Gendarmenmarkt. Diese Häuser sollen dann auch die regulären Bundesmittel ab nächstem Jahr erhalten, ab 1997 werden der Martin-Gropius-Bau und die Philharmoniker ebenfalls gefördert.

Auch die Einrichtung des Hauptstadt-Kulturfonds wurde mittlerweile beschlossen, und die Verwendung der freiwerdenden Mittel im Berliner Kulturetat für kleinere Einrichtungen ist sichergestellt. Doch vom Ziel ist man noch weit entfernt.

Vielleicht werden die Fördersummen aus Bonn ja höher, wenn Berlin ein Mitspracherecht des Bundes befürwortet. Dem Berliner Kultursenator grauste zwar bislang vor der Vorstellung eines „Oberkulturkanzlers Kohl“, doch die Mitglieder des Rats für die Künste sind zuversichtlich. Warum solle in Berlin katastrophal sein, was in der Stadt Bonn seit Jahren reibungslos funktioniere?

Der Optimismus dieses Sprechergremiums ist geradezu gespenstisch. Gleiches gilt für seine Disziplin. Vor den einzelnen Ratssitzungen äußern sich die Mitglieder tagelang nicht mehr öffentlich, und hinterher propagieren sie den Konsens wie aus einem Mund. Natürlich: Die Sache will's, aber wie lange kann das gutgehen?

Die Arbeitsbelastung der einzelnen geht schon jetzt bis an die Grenze des Erträglichen, und es kommen neue Aufgaben hinzu. Statt nur Geld zu fordern, müssen beispielsweise auch eigene Sparvorschläge erarbeitet werden. Und sollte irgendwann die akute Existenzbedrohung vorüber sein, muß die Verteilung des Geldes überwacht werden. Läßt sich eine IG Berliner Kultur dauerhaft im Nebenberuf betreiben? Und wird die Solidarität nicht Sprünge kriegen?

Für solche Fragen ist im Augenblick keine Zeit. Denn nachdem die harte Nuß Bonn geknackt worden ist, gibt es jetzt allerhand in Berlin zu tun. Wie letztes Jahr die Bonner, erhielten soeben die Berliner Abgeordneten eine Einladung „zu einer individuellen Begegnung mit der Kultur Ihrer Stadt“.

Außerdem steht mit der Regierungsbildung in Berlin auch die Nominierung eines neuen Kultursenators bevor. Einen Tag nach der Wahl, am 23. Oktober, hat der Rat flugs eine Liste mit Vorschlägen eingereicht. „Man kann uns nicht links liegenlassen“, meint Wortführer Schitthelm stolz.

So anstrengend die Arbeit des Rats für die Künste auch sein mag – nach langen, unspektakulären Jahren in Berlin ist die Lobbyarbeit für die Kulturschaffenden wohl nicht zuletzt auch ein willkommenes Abenteuer.