So lebt der Mensch

Wer sich in dieses Buch vertieft, wird etwas aufspüren, was Journalisten gewöhnlich nicht für beschreibenswert halten: die Sensation der Normalität“, schreibt Herausgeber Peter-Matthias Gaede im Vorwort zum Bildband „So lebt der Mensch“. 30 Länder hat der Fotograf Peter Menzel mit 15 Kollegen besucht, um eine Inventur des „Global Village“ vorzunehmen und einen Querschnitt der Küchen und Schlafzimmer der Menschheit zu wagen. Gezeigt wird die Verschiedenheit der Lebensformen – und ihre Vereinheitlichung. Die einen schwelgen im Überfluß, die anderen haben fast nichts. Aber alle wollen das eine: mehr.

Zum Konzept des Buches erklärt Peter Menzel: „Mit Hilfe der UNO und der Weltbank haben wir herauszufinden versucht, was in einem bestimmten Land eine Durchschnittsfamilie ist: aufgeschlüsselt nach Wohnort (städtisch, ländlich, Vorstadt, Kleinstadt, Dorf), Art der Unterkunft, Größe der Familie, Jahreseinkommen, Beruf und Religionszugehörigkeit. Aus den Nationen, die zur Zeit Mitglieder der UNO sind, wurden 30 Länder ausgesucht, die auch nach unserer Überzeugung einen repräsentativen Querschnitt der Weltfamilie bieten... Unsere Familien fanden wir mit Hilfe vieler Experten und auf manchmal ungewöhnlichen Wegen. Meist aber besuchten wir einfach für das Land typische Regionen oder Wohnviertel und sprachen mit Menschen, die sich gut auskannten. Mit ihnen zusammen haben wir dann an Türen geklopft... Wenn eine Familie ausgesucht worden war, zog der Fotograf eine Woche lang zu ihr oder ganz in ihre Nähe. Während dieser Zeit sammelten wir anhand einer Liste mit festgelegten Fragen Angaben über die Familie, um ihr tägliches Leben beschreiben und mit der Lebenssituation anderer vergleichen zu können... Das war noch relativ unproblematisch. Um einiges kniffliger erwies es sich aber, den gesamten materiellen Besitz von 30 Familien ins Freie zu schleppen und ihn für dieses Foto aufzubauen.“

Sie schafften es. Das Ergebnis besteht nicht nur aus den hier gezeigten Familienfotos, sondern auch aus weiteren Bildern zu gesonderten Aspekten des Alltagslebens sowie erläuternden Texten.

Peter-Matthias Gaede (Hg.): „So lebt der Mensch“. GEO im Verlag Gruner & Jahr, Hamburg 1995, 255 Seiten, 78 DM

BHUTAN

Die Familie Namgay lebt in Shingkey, ein Bergdorf im abgeschiedenen Himalayastaat Bhutan. Großvater Namgay (50 Jahre alt) und Großmutter Nalim (47) sind die ältesten Mitglieder der Großfamilie. Die Arbeit machen Tochter Sangay (29) und ihr Mann Sangay Khandu (33): Auf Terrassenfeldern bauen sie Reis, Weizen, Chili und Kartoffeln an, außerdem halten sie Kühe und besitzen ein Schwein sowie einen Kürbis (ganz rechts auf der Veranda). Errungenschaften der Weltzivilisation wie Fernseher, Flugzeuge oder Amerikaner haben sie noch nie gesehen, dafür leiden sie unter chronischen Durchfällen und Hautausschlägen. Sangay – dritte von rechts auf dem Bild – hat drei Geschwister und fünf Kinder, die alle auf 67 Quadratmetern leben.

Die Familie Ukita lebt in der japanischen Hauptstadt Tokio. Vater Kazuo (45 Jahre alt) und Mutter Sayo (43) haben zwei Töchter: Mio (9) und Maya (6). Dann haben sie neben dem üblichen westlichen Haushaltszubehör einen Kleinbus, ein elektrisches Klavier und 27 Paar Schuhe, alles in einer 132 Quadratmeter großen Wohnung. Der Alltag läuft immer nach demselben Muster ab: Als erste steht Sayo auf und macht Frühstück. Um 7 Uhr 28 verläßt Kazuo das Haus, nachdem er sein Frühstück aus zwei Dosen Cola, zwei Zigaretten und einer Multivitamintablette eingenommen hat. Dadurch kommt er genau 45 Sekunden vor seinem Pendlerzug am Bahnhof an und fährt zu seiner Arbeit bei einem Zeitschriftenvertrieb. Er hat eine 40-Stunden-Woche, während Sayo 60 Stunden in der Woche mit Hausarbeit verbringt.

Die Familie Getu lebt in Moulo im zentralen äthiopischen Hochland, nur zwei Autostunden von der Hauptstadt Addis Abeba entfernt. Vater Getu Mulleta und Mutter Zenebu Tulu – wie alt sie sind, wissen sie nicht – haben fünf Kinder und wohnen auf 30 Quadratmetern; es sind Bauern, die von Ochsen und Getreide leben und weder Strom noch fließendes Wasser haben. Ein Radio haben sie, aber keine Batterien. Getu arbeitet 80 Stunden in der Woche, Zenebu 126. Ihre Kinder schicken sie nicht auf die Schule, weil Schulkleidung und Lernmittel ein Drittel des Jahreseinkommens verschlingen würden. Außerdem sind sie überzeugt, daß man die alte Kaisersprache Amharisch beherrschen muß, um es zu etwas zu bringen – unter der neuen Regierung findet aber der Unterricht in der örtlichen Oromo-Sprache statt.

Die Familie Natomo lebt in Kouakourou, unweit der alten islamischen Stadt Djenne im Zentrum von Mali. Es ist eine Großfamilie, verteilt auf zwei Häuser mit je 50 und 42 Quadratmeter Wohnfläche. Denn Vater Soumana Natomo, 39 Jahre alt – auf dem Bild sitzt er auf einem Stuhl und hält seine dreijährige Tochter Fatoumata –, hat zwei Frauen: Pama Kondo (28), die im Haupthaus wohnt, und Fatouma Niangani Toure (26) im kleineren zweiten Haus etwa 80 Meter vom ersten entfernt. Mit Pama – auf dem Bild neben ihrem Mann mit dem dreijährigen Sohn Mamadou – hat Soumana fünf Kinder, mit Fama – ganz rechts auf dem Bild – hat er drei. Während des Ramadan wird weniger auf dem Feld und im Garten gearbeitet, dafür geht Soumana im Ortszentrum einkaufen, während Pama dafür zuständig ist, für die Familie Wasser zu holen.

Sehnlichster Wunsch: Bewässerungsanlage, Motorrad, Zaun für den Garten.

Die Familie Thoroddsen lebt in Hafnarfjödur, eine Kleinstadt an der Küste acht Kilometer südwestlich der isländischen Hauptstadt Reykjavik. Vater Björn (57 Jahre alt) ist Pilot der Iceland Air; Mutter Margret (42) ist Hutmacherin. Tochter Sif (18, links im Bild) entstammt Margrets erster Ehe; die Familie hat ferner zwei Söhne – Gunnlaugur (13) und Gestur (11) und eine weitere Tochter Thördis (7). Das 186 Quadratmeter große Haus enthält unter anderem drei Schlafzimmer; außerdem hat die Familie zwei Autos, zwei Telefone, zwei Celli und vier Islandponys. Als Pilot ist der Vater oft weg, und die Mutter reitet gerne auf ihren halbwilden Ponys. Um diese Jahreszeit gibt es in Island täglich gerade vier Stunden Tageslicht.

Die Familie Abdullah lebt in Kuwait City, der Hauptstadt des steinreichen Ölemirates Kuwait. Ihr Haus (oben in der Bildmitte mit der Satellitenschüssel auf dem Dach) ist 450 Quadratmeter groß und enthält kuwaitisches Durchschnittsmobiliar: Siebzehn Teppiche, ein Sofa von 14 Meter Länge, acht antike Uhren, jede Menge Sessel, Büro, Bar und Hallenbad, dazu vier Autos und zwei indische Hausangestellte. Familienvater Saif Abdullah, 52 Jahre alt, ist US-ausgebildeter Professor für Politikwissenschaften. Mutter Sainab ist 44. Ihre beiden ältesten Töchter, Lubna (29) und Laila (26), kämpften während des Golfkrieges in der US-Armee und arbeiten heute jeweils bei der staatlichen Ölgesellschaft und beim staatlichen Fernsehen. Abla (16) besucht die American School, der Sohn Ali ist erst zwei Jahre alt.

Wertvollster Besitz: Religiöses (Sangay und ihre Eltern), Schulbücher (Sangays Bruder Kinley, 17), Springseil (Tochter Zekom, 2).

Wertvollster Besitz: Familie (Vater), Familienandenken wie Ring und Porzellan (Mutter). Sehnlichster Wunsch: Größeres Haus und Zweitwohnung zum Vermieten

Wertvollster Besitz: Ochsen. Sehnlichster Wunsch:Mehr Nutztiere, Kleider zum Wechseln, besseres Saatgut und Ackergerät, Frieden.

Wertvollster Besitz: Fahrrad (für Vater).

Wertvollster Besitz: Privatflugzeug (Vater), Cello (Mutter), Pferd (Sif), Messer (Gunnlaugur), antike Pistole (Gestur), kann sich nicht entscheiden (Thördis).

Wertvollster Besitz: keine Angaben (Vater); Foto vom Sohn in Amerika (Mutter). Sehnlichster Wunsch: Boot zum Angeln, höheres Einkommen, mehr Freizeit.