Bauch für lila Wale

Asia-Medien in Wolfsburg: Nam June Paiks Weltmatrix und Arakis sexuelle Tokio-Grotesken  ■ Von Ulf Erdmann Ziegler

Der Zug endet hier. In der Gleisuntertunnelung steht das Grundwasser, es wird gebaut. Der Platz vor dem Bahnhof sieht aus, als sei der Ort vor zwei Jahren gegründet worden. In unwahrscheinlicher Nähe zum Bahnhof leuchtet das Grün einer Tankstelle. Es gibt einen großen Platz mit Dutzenden von Haltestellen, aber an einem frühen Sonntagnachmittag keinen Bus. Auch keinen Hinweis, wie man zur Stadt kommt. Statt dessen Taxis. Willkommen im Passat; wir sind in Wolfsburg.

Weil das Museum mitten in der Fußgängerzone steht, ist allerdings schlecht heranzufahren. Vorsichtshalber haben die Behörden alles verboten. Selbst die radikalste Autostadt Deutschlands leistet sich ihre Idylle.

Das Kunstmuseum Wolfsburg ist ein Verschnitt aus Industriehalle und Schiff, ein metallenes Gehäuse mit metallenem Interieur. Im Unterschied zur Stadt, die vor einundfünfzig Jahren noch Stadt des KdF-Wagens hieß, ist das Museum tatsächlich Anno 1993. Hügelan hat man schon ein Theater nach einem Entwurf von Scharoun (1973); das Kunstmuseum (es heißt wirklich so) ist der jüngste Versuch, gegen den prägenden Regionalstil der Retortenstadt ein modernes Zeichen zu setzen. So wie es nach dem Entwurf des Hamburger Büros von Peter Schweger aussieht und wie es dort steht, möchte man meinen, es sei vom Himmel gekommen und habe drei Kaufhäuser unter sich ins Erdreich gedrückt. Daß es der Stadt fremd ist, haben die Museumsleute wohl verstanden. Das graphische Symbol des Museums ist ein lila Wal, der auf einem Plakat an der (drucktechnisch) grünlich getönten Technofassade vorbeizieht, als läge das gesamte Ambiente weit unter dem Meeresspiegel. Im Restaurant „Walino“, das über eine Außenbordtreppe bis Mitternacht zu erreichen ist, serviert man Papageienfisch aus dem Pazifik.

Die Sammlung ist in kurzer Zeit mit offensichtlich beträchtlichen Mitteln weltmarktsmäßig zusammengekauft worden. Sie reicht zurück bis zur zweiteiligen Filzstiftzeichnung eines reichlich unterkühlten Konzeptualisten namens Stanley Brown von 1963. Ansonsten ist Zurückhaltung nicht das Prinzip. Von Anselm Kiefer gibt es einen gigantischen Stapel von Gemälden, die unter dem Titel „20 Jahre Einsamkeit“ zu einer Installation verschrottet worden sind; von Allan McCollum ein riesiges Tablett mit „Over 10.000 Individual Works“, von Bruce Nauman eine raumgreifende Videoinstallation mit fünf parallelverlaufenden Projektionen und von Panamarenko „Das Flugzeug“, eine ausgreifende weiße Non-Flug-Maschine von 1967, mit sechzehn Meter Länge. Fast sämtliche Künstler, die die Schwerpunkte der Sammlung stellen, sind zwischen 1940 und 1945 geboren. Und der holländische Direktor, Gijs van Tuyl, ist es natürlich auch.

Dennoch ist er nicht in der gleichen Position wie Uwe Schneede in Hamburg oder Armin Zweite in Düsseldorf, die alte und ältere Sammlungen um die Erfahrung ihrer Generation bereichern und eventuell auf regionale Rahmendaten Rücksicht nehmen müssen. In Wolfsburg ist dagegen Tabula rasa.

Die Sammlungen sind in einem sehr hoch emporragenden ersten Stock zu sehen: respektable Museumsräume, aber in diesem Neubau nur die versteckte Randleiste des gewaltigen, würfelartigen Zentralraums. Der ist so groß, daß in einer schwebend eingezogenen Etage, die nicht mal ein Viertel dieses Hauptsaals abdeckt, eine weitere Ausstellung gezeigt werden kann (zur Zeit: „Das Flugzeug“).

In der großen Halle ist jetzt Nam June Paik zu sehen, mit einer zweiteiligen, lärmenden Videowand und fünf seiner berühmten Flimmerroboter, die wegen der verwendeten Fernsehchassis stark nach fünfziger und sechziger Jahre aussehen, aber komplett neu sind. Paik wirkt auch hier wieder wie der Zauberlehrling, der die Geister gerufen hat (Sony! Samsung!) und begeistert daneben steht, wenn das Material zur Flut wird. Allein der linke Teil der Videowand, „Megatron“, ist ein Ensemble von 150 Fernsehbildschirmen, die über Videodisk gespeist werden und so gesteuert sind, als seien sie gemeinsam einer.

Die Qualität der Darstellung ist enorm und besonders dann verblüffend, wenn graphische Figuren erscheinen, in die wiederum Bilder – irgendwelche Aufnahmen, letztlich – projiziert werden. Unter den Schwingen eines Kunstvogels, der über die Breite nahezu sämtlicher Monitore im Flug verfolgt wird, erscheinen andere Motive der industriellen Landschaft, als wenn man die Schwingen von oben sieht. So daß die Vogelfigur eigentlich nichts anderes ist als ein in sich beweglicher graphischer Umriß, der die Bilderflut nicht unterbricht, sondern in sich aufnimmt.

In den sanft wallenden Rhythmus des Geschehens werden Nationalflaggen geschnitten (Türkei, Japan, Dänemark – die Rots bleiben haften), deren Sekundenstillstand fast einem religiösen Bekenntnis gleichkommt. Und Paiks Bekenntnis ist ja auch der internationale Äther; was in der rechten Installation, die vor allem ein Verschnitt von TV-Musikshows ist, in einer gewollt lächerlichen Variante gebrochen wird. Das Ding heißt „Düsseldorf Matrix“. Die Fernseher sind hier in der für Paik typischeren Stapelung, hoch und quer, aufgebaut.

Erst nach einer Weile begreift man, daß der hektische Soundtrack überhaupt nur zu dieser Installation gehört und die größere – theoretisch – „still“ läuft. Daß die große Halle einen durchgehenden Parkettboden hat, erweist sich nun als beruhigender Rest von Wohnlichkeit.

Das Museum ist nur mit großem und ständigem Aufwand zu bespielen und ähnelt darin den Deichtorhallen in Hamburg, die ganz ohne Sammlung operieren. Der Wolfsburger Jahreskalender ist so eingestellt, daß die Ausstellung in der großen Halle möglichst von einer fotografischen Ausstellung im nördlichen Trakt des Museums sinnvoll ergänzt wird. Jetzt wird dort zeitgleich zu Paik Nobuyoshi Araki gezeigt, also gemeinsam ein Asia-Media-Special.

Araki (geboren 1940) ist in Tokio ein Nachtklubstar, jemand, der mit einer Equipe von Leuten loszieht und bemüht ist, die Szene, die ihn umschließt, in ein interpretierbares Tableau zurückzuverwandeln. Eine Vitrine, die ich sehr gern geöffnet hätte, zeigt die Menge seiner Publikationen, alles von Porno-Camp bis Nackt-Existenzialismus, vom Bahnhofsbuch bis zum Katalog.

Hier, in Wolfsburg, ist das Erstaunliche eine Installation mit Xerox-Farbkopien seiner Aufnahmen, die lückenlos (also um Türen und Lichtschalter herum etc.) eine Wand im Durchgang zur Fotogalerie tapezieren. Wie immer im Kunstkontext, präsentiert Araki „Stadt“ und „Akt“. Stadt: ein gelb phosphoriszierendes Mountainbike; eingeschneite rote Hanteln; der Abendhimmel über einem schwarzen Giebel; eine Plakatwand mit Bildern von Politikern. Akt: die bleiche Brust einer Frau in einem eklektisch gefliesten Badezimmer; eine etwas angespannt wirkende Mittdreißigerin, die sich im Dunkel eines Autorücksitzes ihres Slips entledigt. Und dieses: eine knappe Bleiche, rücklings auf der Tagesdecke eine Hotelbetts liegend, das Gesicht sehr ruhig. Ihre Vagina, leuchtend rot, scheint verletzt zu sein. Aber nein, der Zeigefinger der linken Hand glänzt rötlich. Und da liegt ja auch das Marmeladenglas.

Die schwarzweiße Ausstellung in der Galerie dahinter, auf zwei Stockwerken, mit gewöhnlichen und größeren Formaten, wirkt fast nüchtern im Vergleich. Was an Araki schockiert, ist, wie alltäglich bei ihm Perversion daherkommt. Niemals wären Frauen in Europa ein Vehikel derart jenseitiger Skurrilität.

Schade nur, daß Nam June Paik (geboren 1932) neben seinen neuen, frischen Arbeiten auch die Fluxus-Memorabilien wieder ausgepackt hat. Die zertrümmerte Violine, das Beuyssche Leidensgesicht, der Autoschrott: Man könnte mal ein paar Jahre ohne das.

Nam June Paiks wirklich starken Arbeiten dieser Show sind übrigens seine konventionellsten – die fünf Roboter, wovon einer nach George Boole heißt, einer nach den Wright Brothers und einer nach Andy Warhol. Wenn man ganz nah ran geht, spürt man, daß Paik das Flimmern der Erfinder (und in diesem Kontext ist Warhol auch einer) feingetunt abbildet: ihre technische Aura. Falls ein Uni-Seminar in Erfahrung bringen will, wie man der Kritischen Theorie winke, winke macht, ist ein Besuch im Wolfsburger Kunstmuseum angebracht.

Kunstmuseum Wolfsburg: Nam June Paik, „High Tech Allergy“, bis 21. Januar 1996. Nobuyoshi Araki: „Tokyo Novelle“, bis 18. Februar 1996. Video von Paik (erscheint demnächst) 98 DM, Katalog zu Araki (schwarzweiß) 42 DM